Wizards of Nevermore Bd. 1 - Eine Hexe in Nevermore
Bann aufheben?«, rief sein Großvater, missgelaunt wie eh und je. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, um hier herumzusitzen und dir nach deinem Gutdünken zur Verfügung zu stehen!«
»Genau, Mann. Wenn du dann mal fertig bist, fies zu den Mädels zu sein, könnten wir deine Hilfe gut gebrauchen.«
»Ist es jetzt mal gut?«, rief Gray genervt. Nicht, dass Grit oder Dutch irgendwohin gehen könnten – sie waren Seelenbücher. Seinen Großvater hatte er geerbt, und der hatte sich mit Dutch angefreundet, als sie beide ihr obligatorisches Jahr in der Ehrwürdigen Bibliothek verbrachten. Als es an der Zeit für Gray war, den alten Mann, sprich: sein Erbe, einzufordern, hatte Grit seinen Freund nicht allein zurücklassen wollen. Darum hatte Gray jetzt alle beide Besserwisser am Hals. »Nicht dass noch eure Seiten zerknittern!«
»Das haben wir gehört, Mann.«
Gray verdrehte die Augen und machte sich auf den Weg in die Küche. Vor seinem geistigen Auge sah er immer noch Lucinda vor sich, wie sie durch den strömenden Regen davonging in Richtung Zentrum. Mitten im Wohnzimmer blieb er unvermittelt stehen. Verdammt.
Natürlich war sie stark genug, redete er sich ein. Sie hatte es bis hierher geschafft, und sie würde auch wieder allein aus der Stadt herauskommen. Er war nicht für sie verantwortlich. Sie war kein Kind mehr. In seiner Fantasie tauchten in diesem Augenblick alle möglichen Szenarien auf, von dem, was einer Rackmore-Hexe alles Schlimmes in Nevermore widerfahren konnte.
»Ich fahre in die Stadt«, rief er. Plötzlich hatte er es eilig. Er musste sich noch umziehen, Schuhe und einen regenfesten Mantel suchen.
»Hey, Mann!«, rief Dutch. »Bring uns Donuts mit!«
»Aber nicht diese schwulen Marmeladendinger!«, fügte Grit hinzu. »Die ganz Einfachen aus Kuchenteig sind gut.«
Gray ignorierte ihre Wünsche und rannte die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. In ihrem momentanen Wesenszustand konnten Grit und Dutch überhaupt nichts zu sich nehmen. Aber sie mochten den Geruch von Essen, vor allem von Desserts.
Gray streifte seine Kleider ab und griff nach einer ausgewaschenen Levi’s-Jeans und einem grauen Pullover mit Zopfmuster. Erstaunlicherweise fand er auch ein Paar saubere Socken, und nachdem er sich durch die Unordnung unten in seinem Schrank gewühlt hatte, entdeckte er auch seine schwarzen Cowboystiefel.
Das Problem war der Mantel.
Sein offizielles Hüter-Outfit, ein lässiger schwarzer Umhang mit Kapuze, auf dessen Vorderseite links ein goldener Drache eingestickt war, konnte er nicht finden. Er hatte ihn länger nicht mehr getragen, zuletzt, als er in der Stadt gewesen war. Er runzelte die Stirn. Seit den Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende war er nicht mehr in Nevermore gewesen. So ein Mist! War das wirklich schon so lange her?
Gray hatte die unangenehme Eigenschaft, alles einfach fallen zu lassen, was er gerade auszog. Manchmal brauchte er eine ganze Woche, um sich durch seine Unordnung zu kämpfen und aufzuräumen, doch der ordentliche Zustand hielt nie lange an. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er das letzte Mal richtig sauber gemacht hatte. Kein Wunder, dass er überhaupt nichts mehr fand.
Als Hüter von Nevermore musste er gewisse, nun ja, pathetische Erwartungen der Bevölkerung erfüllen. Nevermore war immer eine Stadt der Drachen gewesen, und seine Familie hatte nicht nur gemeinsam mit ein paar Hundert Menschen die Stadt gegründet, sondern war auch sofort als Beschützermacht auserkoren worden.
Leider bestand die Calhoun-Linie inzwischen nur noch aus ihm. Als er vor fünf Jahren nach Nevermore zurückgekehrt war, war nur noch sein Großvater übrig geblieben. Der alte Mann war nicht mehr in der Lage, selbst kleinste Pflichten zu erfüllen, geschweige denn die notwendigen Schutzsprüche zu erneuern. Grays Mutter war schon vor langer Zeit weggegangen, um ihre eigenen politischen Ziele im Haus der Drachen zu verwirklichen, und hatte ihren Sohn darauf eingeschworen, dasselbe zu tun. Sie war nie mehr nach Nevermore zurückgekehrt – bis auf den Tag, an dem sie ihrem Sohn geholfen hatte, wieder in das Haus ihrer Familie einzuziehen.
Als Gray selbst noch politische Ambitionen gehabt hatte, war es ihm ein Leichtes gewesen, in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten. Wie sie wollte auch er die Welt verändern. Auch er liebte dieses Spiel, dieses Manövrieren und Sichpositionieren. Natürlich gewann er nicht immer, aber er lernte immer etwas dazu, das er dann für seine
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