Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
Beobachter sind nicht der Auffassung, dass die Präsidentschaftswahlen 1996, bei denen Jelzin zum zweiten Mal Staatsoberhaupt wurde, gefälscht waren.
Aber auch unter Jelzin war das russische Volk in vielem noch den alten Zwängen unterworfen. Denn über das postsowjetische Russland brach eine himmelschreiende Armut herein, der Feind Nummer eins für Freiheiten des alltäglichen Lebens. Die offizielle Propaganda, die, entgegen der späten liberalen Mythenbildung, in den 1990er-Jahren in Russland quicklebendig war, vermittelte mal deutlich, mal unterschwellig eine konkrete Botschaft: Wie schlimm es auch sein mag, die einzige Alternative zu Jelzin ist die kommunistische Hölle mit dem dazugehörenden Gulag.
Und dann tauchte zum Jahreswechsel 1999/2000 auf einmal Putin auf. Er wirkte wie ein gewöhnlicher Bürger, der wie ein moderner westlicher Mensch leben will. Natürlich konnte er das nicht richtig zum Ausdruck bringen, vor allem nicht am Anfang. Um sich als Träger einer bestimmten historischen Tradition zu legitimieren, musste WWP ständig zur imperialen Rhetorik greifen und demonstrativ dem unermesslichen Schlachtkörper Russland von den zerschundenen Knien aufhelfen. Das forderten die Spielregeln. Denn Putin war durch das Blut und den Schmutz der detonierten Hochhäuser der Moskauer Vorstadt und durch die Kanonade des zweiten Tschetschenien-Kriegs in den Kreml gedrungen.
Praktisch jedoch tat der zweite Präsident alles, um die russischen Bürger den Geschmack alltäglicher Freiheiten kosten zu lassen. Er führte eine einheitliche Einkommenssteuer von 13 Prozent ein – das war damals der niedrigste Steuersatz in Europa. Sicher kam dies vor allem den Superreichen und den Begünstigten der großen Privatisierung der 1990er-Jahre zugute, die nun einen Teil ihres Geldes innerhalb von Russland legalisieren konnten. Aber es waren auch die im Vorteil, die wenigstens etwas Geld verdienten oder verdienen wollten.
Putin erlaubte den Russen, im Ausland uneingeschränkt Konten zu eröffnen (unter Jelzin hatte es in dieser Hinsicht noch Einschränkungen gegeben). Damit rieselte auf das ungefestigte Haupt des russischen Bürgers das längst vergessene Geld: Der Erdölpreis begann zu steigen, und auch die Gehälter wurden wieder rechtzeitig ausgezahlt (unter Jelzin konnte sich die Zahlung bis zu einem halben Jahr oder länger verzögern). Und schließlich wurde auch ein System von Verbraucherkrediten geschaffen. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten oder den 1990er-Jahren musste der russische Mittelständler nun nicht erst lange für eine ausländische Waschmaschine oder ein Auto sparen – er konnte alles sofort haben, auf der Stelle.
Im Gegenzug bat Putin den russischen Bürger leise, aber deutlich vernehmbar, nur auf eines zu verzichten: auf ernst zu nehmende Wahlen. Wozu wollt ihr wählen und gewählt werden?, schien er seine Mitbürger zu fragen. Denn die Macht in Russland kommt schließlich auf eine außerirdische, marsianische Weise zustande und nicht in den Wahlbezirken. Und wenn ihr jemanden wählen wollt, was Gott verhüten möge, und es tatsächlich tut, dann wird alles nur schlimmer – denkt an Jelzin!
Putins Pakt der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts bestand entgegen der Meinung vieler oberflächlicher Analytiker also durchaus nicht in einem Tauschangebot Freiheit gegen Wurst. Es war ein Tausch der Freiheit gegen Freiheit. Der Freiheit im Alltag, die das russische Volk vor Putin nie gesehen hatte, gegen die politische, von der es während Gorbatschows Perestroika (1987 bis 1991) gekostet hatte und trunken geworden war, wobei der Kater danach recht unerfreulich ausfiel.
Die Menschen, denen man diese Alltagsfreiheit zugebilligt hatte, fingen nicht nur an, ihre Socken in guten Waschmaschinen von AEG und Bosch zu waschen. Sie begannen auch zu reisen, und zwar durch die ganze Welt. Unter der sowjetischen Macht war das Reisen politisch reglementiert – es gab Ausreisevisa, und die bekamen nur wenige. Unter Jelzin gab es keinerlei Notwendigkeit für Reisevisa mehr, aber es fehlte das Geld. Daher blieben für den russischen Durchschnittsbürger nur Länder übrig, die die Visaregelung mit der Russischen Föderation rechtzeitig geändert hatten, um damit ihre eigene Tourismusbranche zu kultivieren: Ägypten, die Türkei und im besten Fall Zypern.
Unter Putin gingen wir dann schließlich auf große Fahrt: von Deutschland bis in die USA, von den Cook Islands bis nach Jamaika. Die Russen bekamen zum ersten Mal
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