Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
Städte, von denen das Diktat der Mode und der grundlegenden Bedürfnisse ausging. Das führte schließlich zum Zerfall des sowjetischen Imperiums, das genetisch auf Autarkie und Isolierung gepolt gewesen war.
Die erste postsowjetische Macht in Russland, nämlich die von Jelzin zu Beginn der 1990er-Jahre, war eine städtische. Mit der Zeit jedoch hat sich die Situation qualitativ verändert. Die heutige Macht (Putin, »Einiges Russland« und andere Elemente dieses Machtgebildes) stützt sich im Wesentlichen auf das Dorf (das immer noch existiert, wenn auch in schwer depressivem Zustand bis hin zum augenscheinlichen Absterben), auf Desadaptierte der Stadt (das Lumpenproletariat und andere, die nicht in den modernen Kapitalismus integrierbar sind, auch wenn er dreimal so sozial wäre), auf nationale Randbezirke (also faktisch andere Länder im russischen Verbund).
Aktive, denkende Städter, die in diesem Staat die städtische Mentalität verkörpern, werden automatisch der Opposition zugerechnet und gehören sogar dann zu ihr, wenn sie selbst davon nichts wissen. Das trifft auch auf das RuBiBü zu. Zum ersten Mal nach langer Zeit gibt es in Russland echte Bürger, die fähig und bereit sind, eine bürgerliche Gesellschaft von unten aufzubauen. Allein. Ohne Kopfnuss und ohne in den Rücken geschubst zu werden. Ohne hysterisches Geschrei und ständige Mahnungen, für ein »kommendes Morgen« Entbehrungen zu ertragen.
Und so erklärten sie Putin am Tag seiner Amtseinführung den Boykott und Moskau zur »geschlossenen Stadt«. Warum? Weil die Präsidentschaftswahlen 2012 ein Witz waren, der ihre Würde verletzte. Und sie gaben Putin ihre Antwort, in vollem Bewusstsein ihrer eigenen Stärke und nicht mehr dem treu ergebenen Untertanengeist folgend, den er erwartet hatte.
Auch die Dumawahlen von 2011 hatten sie so eingeschätzt. Deswegen versammelten sich am 10. Dezember 2011 50 000 Menschen auf dem Bolotnajaplatz und am 24. Dezember 100 000 auf dem Sacharowprospekt, den beiden Schlüsselpunkten im Zentrum Moskaus. Weder die Regierung noch die Opposition hatte eine solche Zahl von Demonstranten erwartet. Die letzten Massenversammlungen hatte es in Moskau 1990 gegeben, als die von den Kommunisten schwer enttäuschte, spätsowjetische Gesellschaft auf dem Manegeplatz zusammengekommen war. Allerdings hatte es sich dabei noch nicht um einen durchdachten Protest des Russischen Bildungsbürgertums gehandelt, sondern um einen gewöhnlichen russischen Aufstand, der, wenn auch zutiefst friedlich, auf ein gewöhnliches russisches Wunder gehofft hatte, dessen Verkörperung zu diesem Zeitpunkt Boris Jelzin gewesen war. Seither hatte es nichts Vergleichbares gegeben.
Dem Kreml jagte das RuBiBü einen realen Schrecken ein.
Ich erinnere mich daran, wie ich am 10. Dezember 2011 nach der Demonstration auf dem Bolotnajaplatz halb Moskau zu Fuß durchquerte – von der ehemals legendären Schokoladenfabrik Krasnyj Oktjabr, wo sich der Kultsender Doschd der Russischen Bildungsbürger befindet, bis zu einer Reihe von Imbissen auf dem Twerskoi-Boulevard. Und nachdem ich insgesamt nicht weniger als eine Flasche Wodka getrunken hatte, geriet ich, ohne eingeladen gewesen zu sein oder ein Geschenk mitgebracht zu haben, in ein ehrenwertes Haus, wo ich bis in die Morgenstunden Gedichte rezitierte. In dieser Runde klang nicht einmal der sonst so schwergewichtige Chodassewitsch allzu pathetisch – »ach Russland, du Riesenreich, saugend deine Zitzen fassend, erwarb ich unter Qual das Recht, zu lieben dich oder zu hassen«. Aber meine Glanzrolle hatte ich mit Boris Slutzki:
Gut und Böse sitzen am Tisch.
Gut will gehen, und Böse steht auf …
(Den Bezugsschein habe ich frisch
für den Apfel, Erkenntnis zu kaufen.)
Gut trägt einen knittrigen Hut.
Böse zieht Dienststiefel an.
(Ich glaube, die Last bin ich los
Und alles auf der Erde ist klar.)
Ich höre, wie Böse laut redet:
– Diesmal hattest du Glück. –
Und reicht Gut die helfende Hand,
Und hört: – Ich brauche sie nicht.
Böse kneift die Lippen zu,
Gut zeigt seinen löchrigen Mund,
Zähne zerbrochen, oder sie fehlen,
eine Ruinenlandschaft ist da.
Gut reißt den Mund noch weiter auf,
Gut lacht mit zahnlosem Mund.
Und ich erlebe ein Glücksgefühl –
dass ich diesen Tag erleben darf.
Da begriff ich, dass Moskau nie wieder Putins Stadt sein würde. In seiner Hauptstadt war er nun ein einsamer Mann, nur in Gesellschaft seiner zwei Hunde, des Labradors Conny und des
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