Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
facto existiert diese Quasi-Forschungseinrichtung gar nicht).
Mit der Entwicklung ihrer Theorie der Militärokratie begann Kryschtanowskaja 2003, und 2006/2007, als sich der Kampf um die Nachfolge von Wladimir Putin zuspitzte, hatte sie konkrete Formen angenommen. Dabei befanden sich einige einflussreiche internationale Massenmedien eine Zeit lang unter dem Eindruck des »militärokratischen« Diskurses. Hier einige Headlines aus den Jahren 2006/07:
»Militär und Sicherheitsoffiziere ›kolonisieren‹ die russische Elite« (Le Monde), »Geheimdienst gegen die ›Familie‹ ( Berliner Zeitung, gemeint ist die Familie des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin), »Wie Putins Mitstreiter vom KGB die Macht in ihre Hände nehmen« (Der Spiegel), »Arbeit für kleine Jungs: Die neue ›Militärokratie‹ von Putin« (The Wall Street Journal) .
Die Arbeit von Kryschtanowskaja basiert auf zwei quantitativen Ausgangsparametern, die sie der Öffentlichkeit präsentierte:
a) Zum Jahr 2006 wurden 70 Prozent (!) der bürokratischen Ämter in Putins Russland von »Menschen mit Schulterklappen« bekleidet, die der Militärgeist einer Körperschaft einte und verband, welcher auch ihre Psychologie und Mentalität bestimmt.
b) Zum Jahr 2001 konnten als Folge der dramatischen Finanzkrise von 1998, die einen erheblichen Einfluss auf den Zustand der russischen Wirtschaft ausgeübt hatte, nur 15 Prozent der Großunternehmer (Oligarchen) der Jelzin-Zeit ihren Einfluss wahren; 85 Prozent der Posten auf der Kommandoebene gingen an Vertreter des Putin-Gefolges über, die militarisierten Strukturen angehörten.
Die Autorin führt dabei keinerlei Belege für die Richtigkeit dieser Zahlen an und legt auch nicht dar, wie sie erhoben wurden. Das Einzige, was der Autor dieser Zeilen als ungefähre Antwort von Frau Kryschtanowskaja auf die direkt gestellte Frage nach den faktischen Quellen für ihre Theorie der Militärokratie bekam, war: Alle Beamten mit Lücken in der Biografie, also mit geringfügigen Leerstellen in ihren offiziellen CVs, sind eingefleischte Geheimdienstler. Sic! Das nennt sich also Soziologie. Oder auch wissenschaftliche Logik.
Ich wage zu behaupten, dass die Theorie der Militärokratie ein ausgemachter Bluff ist, der sich aus gewissenlosen Manipulationen von statistischen Angaben speist.
Erstens ist es eine recht zweifelhafte Herangehensweise, die Zugehörigkeit eines staatlichen Funktionärs zur Militärkaste auf Grundlage von Lücken in seiner Biografie festzustellen. Typisch sind solche »Leerstellen« in CVs für Menschen mit einer kriminellen Bilanzgeschichte und keineswegs für solche mit gigantischen Geheimdiensterfahrungen. Außerdem ist nicht erkennbar, dass sich im modernen Russland die Abkömmlinge des KGB-Systems der UdSSR für ihre Vergangenheit überaus schämen und gezwungen sind, wichtige Details ihrer Biografie zu verschweigen.
Zweitens haben im Unterschied zur Türkei von Atatürk, dem faschistischen Spanien oder einigen Länder Lateinamerikas die »Menschen mit Schulterklappen« des sowjetischen und postsowjetischen Russlands nie eine einheitliche Körperschaft mit gemeinsamen Interessen und einem standardisierten ethischen Kodex gebildet. Die Geheimdienste standen dem Innenministerium stets feindlich gegenüber, und jede dieser Strukturen hasste eigentlich das Militär, also das System des Verteidigungsministeriums Russlands. Sowohl die kommunistische als auch die postkommunistische politische Leitungsebene hetzte traditionell und bewusst die verschiedenen Zweige und Abteilungen der staatlichen Gewaltorgane gegeneinander auf, um zu verhindern, dass sie gemeinsam und solidarisch Anspruch auf die reale Macht erheben oder sich in kritischen Situationen illoyal verhalten. Man erinnert sich noch gut daran, wie im Oktober 1993, als Boris Jelzin den Obersten Sowjet der RSFSR auflöste, sich das damalige Ministerium für Staatssicherheit (der Rechtsnachfolger des KGB en miniature) eines Sturms des Parlamentsgebäudes, das Tausende von Menschen umringten, vorsichtig und höflich enthielt.
Dafür wurde der Befehl blutig und tadellos – unter Panzerbeschuss – vom Militär ausgeführt, das Jelzins Vertrauter, der Verteidigungsminister General Pawel Gratschow, befehligte. Die verschiedenen Strukturen sind also nicht imstande, eine wie auch immer geartete einheitliche Lobby zu bilden, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Und von einer »Militärokratie« als einem umfassenden Entscheidungssystem zu sprechen
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