Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
hatte keine konsequente und stringente Strategie für Reformen. Er nahm keine historischen Ereignisse vorweg, sondern folgte ihnen. Und sein Ziel war nicht die Abschaffung der kommunistischen Herrschaft, sondern im Gegenteil ihr Erhalt und ihre Festigung. Dafür unternahm er widersprüchliche Schritte – mal schwächte er das Regime, mal versuchte er, die »Schrauben anzuziehen«. Man denke an die repressiven Aktionen in Tiflis 1989, in Vilnius und in Riga 1990/1991. Der Prozess der Perestroika, der aus der Krise des spätsowjetischen Kommunismus entstand, war wie die Politik der Parteispitze Gorbatschows durch zwei grundlegende Merkmale gekennzeichnet:
• die unüberwindliche Entfremdung des aktiven Teils der Gesellschaft von den Machthabern und
• die Enttäuschung der politisch-wirtschaftlichen Elite von einem System, das diese Elite eigentlich hervorgebracht und aufgepäppelt hatte.
Die Perestroika und der Zusammenbruch der UdSSR als ein Land, dessen Hauptaufgabe die Verkörperung des unerfüllbaren kommunistischen Projekts gewesen war, wurden unvermeidlich und unumkehrbar, als die Parteisekretäre begriffen: Das System hat sich selbst erschöpft und ist nicht mehr lebensfähig. Das wurde ihnen klar, als sie merkten, dass das Regime zwar einerseits Raumschiffe ins All schicken und die Welt mit supermodernen Kernwaffen bedrohen konnte, aber andererseits außerstande war, sein eigenes Volk auf allerprimitivstem Niveau zu ernähren. Das Lebensniveau der einflussreichen Parteiarbeiter, die über große Macht in verschiedenen Abstufungen verfügten, war bedeutend niedriger als das der einfachen europäischen und nordamerikanischen Bürger. Diese Erkenntnis löste eine psychische Eruption aus, welche die Voraussetzung war für die politische Eruption.
Etwas Ähnliches geschah in Putins Russland 2011. Der aktive Teil der Gesellschaft – das Russische Bildungsbürgertum (RuBiBü) – verwehrte Putins Machtapparat das Vertrauen. Im Großen und Ganzen war es die Elite – also die Gesamtheit der Menschen, die an den wichtigen und höchst wichtigen Entscheidungen des Landes beteiligt waren –, die zu der Einsicht kam, dass sich das System einer totalen Korruption erschöpft hatte. Zu Putins Anfängen (2002 bis 2004), als die Korruptionssteuer nicht über 20 Prozent lag, konnte sie Motor für die Wirtschaft und sogar für bestimmte liberale Reformen sein. Dann wurde sie ein Instrument zur Sicherung des Stillstands. Doch gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, als die Korruptionssteuer die 50-Prozent-Marke erreicht hatte, wurde offensichtlich, dass die Wirtschaftsmaschinerie ihrer Selbstzerstörung entgegenging. Und so begann die zweite Perestroika, deren Auslöser die berüchtigte Rochade gewesen war.
An einen ehrlichen Sieg von »Einiges Russland«, das die höfischen Soziologen des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (WZIOM) und des Fonds Öffentliche Meinung (FOM) angekündigt hatten, glaubte der aktive Teil der Gesellschaft nun schon nicht mehr. Im diesem Moment unternahm Alexei Nawalny einen weiteren günstigen politischen Schachzug. Er initiierte im Internet eine Kampagne mit dem Aufruf zu Wahlen, bei denen für alle Parteien außer »Einiges Russland« gestimmt werden konnte. Für ihn selbst war das recht pragmatisch, weil er sich an den Wahlen nicht beteiligte.
Aber nicht einmal der Aufruf selbst war das Entscheidende, sondern der von Nawalny erdachte Markenname oder, wie man es heute in der Internetsphäre nennt, das Mem »Partei der Gauner und Diebe«. So nannte der megapopuläre Blogger, der rasch zum führenden Oppositionspolitiker aufgestiegen war, die »Machtpartei«. Das Markenzeichen/Mem wurde sehr schnell angenommen und hat »Einiges Russland« wohl einige Prozente gekostet, was unter Berücksichtigung des begrenzten Formats und Maßstabs von Nawalnys Agitation, die sich vor allem in den sozialen Netzwerken Livejournal, Facebook und Twitter abspielte, ein durchaus bedeutsames Ergebnis darstellt.
Die Wahlen am 4. Dezember, bei denen »Einiges Russland« dennoch formal siegte, riefen in den großen Städten Russlands lautstarke Empörung hervor. Erste Kulmination der Proteste war die Aktion auf dem Bolotnajaplatz am 10. Dezember, bei der 50 000 Menschen zusammenkamen – die Hauptstadt hatte seit den Massendemonstrationen von Gorbatschows Perestroika nichts Vergleichbares gesehen. Ich war dort und kann bezeugen: Auf dem Bolotnajaplatz herrschte eine unbändige Energie. Auf der
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