Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
Rednerbühne gab es fast keine akustische Verstärkung, die Bühne selbst war für die Mehrheit der Versammelten schlecht zu sehen. Aber das war nicht wichtig. Die russischen Bildungsbürger fühlten sich das erste Mal seit vielen Jahren nicht als atomisierte Menge, sondern als vereinte Gemeinschaft, die bereit ist, sich gegen die Wahlfälschung und vor allem gegen Putins Machtsystem aufzulehnen.
Am 10. Dezember entstand die Hoffnung auf eine friedliche Transformation von Putins Regime. Und die russischen Mächtigen begriffen, dass sie die Unzufriedenheit des aktiven Teils der Gesellschaft nicht mehr ignorieren konnten. Denn sie hatte von Menschen Besitz ergriffen, die noch am Tag zuvor Wladimir Putin ihre Loyalität gezeigt hatten.
Die bunt zusammengewürfelten Vertreter der Opposition und der Aufmüpfigen, die sich an die Spitze des Protests stellen (ohne sich direkt daran zu beteiligen) und damit politisch punkten wollten, schufen ein Organisationskomitee für die Protestveranstaltungen und erklärten sich zu den »Anführern des Volksprotests«. Viele Prominente, die ausgerechnet in den »verfluchten« Putin-Jahren ihre Entwicklung genommen und Prosperität erlangt hatte, stürzten sich in das Gewühl, um den günstigen Moment nicht zu verpassen, Teil des historischen Mainstreams zu werden.
Bereits auf dem Bolotnajaplatz tauchten die Schriftsteller Dmitri Bykow und Boris Akunin sowie die Fernsehmoderatoren Tatjana Lasarjewa und Michail Schaz auf. Bei der zweiten Demonstration auf dem Sacharowprospekt, welche die meisten Massen versammelte – ungefähr 100 000 Teilnehmer –, konnte man dann schon den Fernsehstar erster Güte Xenija Sobtschak (die Tochter von Anatoli Sobtschak) sowie den Ex-Finanzminister Alexei Kudrin erblicken, der die ganze Zeit darüber nachdachte, ob er sich an die Spitze der liberalen Fronde stellen sollte. Auch der Oligarch Michail Prochorow war dabei, der unentschlossen in Zickzacklinien und Windungen seinen Weg in die oppositionelle (beziehungsweise pseudooppositionelle) Politik suchte. Die Ereignisse auf dem Sacharowprospekt haben gezeigt, dass die Proteste des RuBiBü sogar bei den Menschen ein gewisses Mitgefühl hervorrufen, die Putin historisch und organisch nahestehen, und das bedeutet, man kann diese Vorgänge nicht länger ignorieren und nach dem Motto »Das wird sich schon von selbst auflösen« betrachten.
Die Oppositionsparteien hingegen – die Kommunistische Partei, »Gerechtes Russland« und die Liberal-Demokratische Partei Russlands – machten ihr Verhältnis zu den Protesten in keiner Weise deutlich. Und viele der alten unversöhnlichen Oppositionellen befanden sich völlig am Rand dieser Prozesse, wie zum Beispiel der russische Schriftsteller Eduard Limonow, Gründer der Nationalbolschewistischen Partei. Er kritisierte die Mitglieder des selbst ernannten Organisationskomitees dafür, dass sie am 10. Dezember der genehmigten Veranstaltung auf dem Bolotnajaplatz zugestimmt hatten, anstatt alle erzürnten Bürger dazu aufzurufen, ohne Genehmigung auf dem Platz der Revolution zu erscheinen, der sich unmittelbar in Kreml-Nähe befindet, um dort die stählerne Zitadelle der russischen autoritären Macht gleichsam zu stürmen.
Ob ein solches Szenario realistisch gewesen wäre, wissen wir nicht. Wohl eher nicht. Aber seitdem haben sich die Wege von Limonow und den »bourgeoisen Moderatoren des Protestes«, wie er sie nannte, getrennt. Der schriftstellernde Politiker hinterließ neben der aus der Nationalbolschewistischen Partei alten Musters entstandenen Partei »Anderes Russland« auch ein Aktionssystem »Strategie-31« – das sind nicht genehmigte Demonstrationen mit stets kleiner Teilnehmerzahl, die am 31. eines jeden Monats durchgeführt werden. Das Datum erinnert an den niedergetretenen Paragrafen 31 der Verfassung der Russischen Föderation, der das Recht der Bürger auf Versammlungsfreiheit garantiert – friedlich und unbewaffnet.
Am 10. Dezember befand sich Alexei Nawalny noch in Verwaltungsarrest – wie wir uns erinnern, hatte er diese Haft selbst provoziert, um sich bei den »Freiheitsmärtyrern« einreihen zu können und gleichzeitig einer Diskussion über seine ungelegen kommende Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 2012 zu entgehen. An den Protesten auf dem Sacharowprospekt hatte sich Nawalny schon beteiligt und zu den herausragenden Rednern gehört. Damals streute er Losungen unters Volk, mit denen er bis heute aktiv ist: »Wir sind hier die Macht!«,
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