Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
die ganze Arie mit der Anerkennung/Nichtanerkennung der Tschetschenischen Republik Itschkeria noch unbestimmt lange hinziehen kann. In der Frage der tschetschenischen Unabhängigkeit konnte man schließlich nach der Formel des bekannten europäischen Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts Eduard Bernstein vorgehen: Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles.
Wladimir Putin ist in der Folge so manches Mal öffentlich zu diesem Satz zurückgekehrt, wenn er ihn auch manchmal im Eifer des Gefechts, aus Ermüdung oder Vergesslichkeit Lew Trotzki zuschrieb. Wie eine Analyse seines öffentlichen Auftretens zeigt, erinnert sich Putin oft an das, was in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt oder ihn wenigstens ein bisschen berührt hat.
Dennoch ist der Architekt dieses Krieges und aller seiner ihn begleitenden Vereinbarungen nicht Putin, sondern Jelzins »Familie«. Wenn die Explosionen der Wohnhäuser in den tristen Schlafstädten russischer Städte eine Provokation waren, mit der der Zweite Tschetschenien-Krieg gerechtfertigt werden sollte, dann sind sie wohl kaum von Vertretern, Strukturen oder Unterabteilungen der offiziellen Geheimdienste angezettelt worden. Jelzin und seine nächste Umgebung hatten viel zu wenig Vertrauen in die Staatssicherheit.
Dazu gab es allen Grund: 1991 hatte der KGB der UdSSR, der damals so machtvoll und sowohl im militärischen als auch im juristischen Sinne mit allen Möglichkeiten ausgestattet war, die Sowjetmacht einfach verraten und die Augen vor dem Zerfall der seiner Obhut anvertrauten Supermacht verschlossen. 1993 dann zogen sich die Tschekisten aus der Verantwortung für den Sturm des Weißen Hauses, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass ein Sturz des Präsidenten und die Machtübernahme durch Ruslan Chasbulatow und Alexander Ruzkoi für sie eine völlig normale Entwicklungsmöglichkeit der Ereignisse darstellen würde. 1998, am Vorabend der großen Erschütterungen in der russischen Wirtschaft, entließ Jelzin ohne sichtbare Gründe oder verständliche Erklärungen den KGB-Kader General Nikolai Kowaljow vom Posten des Direktors des FSB der Russischen Föderation und ernannte stattdessen Wladimir Putin in dieses Amt, von dessen Verhältnis zu seiner Alma Mater wir bereits gesprochen haben.
Nein, alle diese Menschen konnten eine so delikate Mission wie die Vorbereitung auf einen tschetschenischen Krieg Nummer zwei nicht den offiziellen Gewaltstrukturen überlassen. All das wurde von informellen Strukturen übernommen, deren Vertreter man danach vernichtete, um alle Spuren zu verwischen.
Nicht ohne Grund habe ich der Jelzin-Zeit, den Beziehungen zwischen Russland und Tschetschenien und der tatsächlichen Genesis des Zweiten Tschetschenien-Kriegs so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn wir Putin so weit wie möglich verstehen wollen, müssen wir uns bewusst sein, dass es keine eigenständige Putin-Epoche gibt. Es gibt eine allgemeine Jelzin-Putin-Epoche, wie es eine einheitliche Jelzin-Putin-Elite und eine durchgängige Logik der Macht gibt.
Jelzin war bereit, viel Blut zu vergießen, damit Putin Präsident werden konnte. Auch wenn Putin sich nicht um das Präsidentenamt riss, schätzte er Jelzins Vorgehen aufrichtig und vergaß es ihm nie. Das, was der zweite russische Präsident nach dem Rücktritt des ersten tat, stellt keine Abweichung vom Kurs seines Vorgängers dar, und schon gar nicht gab es eine »Revanche der Geheimdienste«, wie klischeeverklebte Hirne immer noch meinen, die propagandistische Konstruktionen anstelle der Realität analysieren.
Putin setzte all das fort, was Jelzin begonnen hatte – jedenfalls das, was objektiv durch den Umsturz im Oktober 1993 und die erzwungene Annahme einer neuen Verfassung im Dezember 1993 konstituiert worden war –, und führte es zu einem logischen Schluss. Das autoritäre Regime totaler Korruption, das wir Putin zuschreiben, ist eine direkte Folge aller Ereignisse, die sich zwischen dem 3./4. Oktober und dem 12. Dezember 1993 ereigneten. Der Zweite Tschetschenien-Krieg ist eine Etappe, kein Ausrutscher in der Gesamtgeschichte der modernen russischen Eliten, wie sehr sich die meisten von ihnen, die heute ihre Kinder in die euroatlantische Welt schicken, damit sie dort studieren und ein »zivilisiertes« Leben führen, auch vom blutigen Hintergrund ihres eigenen Werdegangs distanzieren.
Den eigentlichen Sinn des Zweiten Tschetschenien-Krieges ahnten oder kannten nur wenige. Die Generäle der sowjetisch-russischen Armee Viktor
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