Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
gegen Russland kämpften – für die absolute Unabhängigkeit. Achmat-Hāddsch Kadyrow war ein Mufti, der Russland den Dschihad erklärte. In der Folge wollte man Kadyrow Senior den Vorwurf machen, er habe angeblich dazu aufgerufen, dass jeder Tschetschene 150 Russen töten solle. Der Religionsführer wusste sich zu verteidigen: Nach eigenen Worten hatte er nicht dazu aufgerufen, jede tschetschenische Seele solle eine konkrete Zahl von Subjekten vernichten, sondern das Maximum – so viele wie möglich.
Für seine großen Verdienste in der Sache des tschetschenischen Widerstands wählten die Imams der Bezirke der Republik Achmat-Hāddsch Kadyrow 1995 zum Obermufti von Tschetschenien. Nach dem Tod von Dschochar Dudajew beschloss der ambitionierte Islamist, er könne Tschetschenien nicht schlechter lenken als der betagte Oberst. Er erreichte seine Wahl zum militärischen Amir – dem obersten Feldherren der Republik, dem der Idee nach alle Streitkräfte untergeordnet sind.
Maschadow erkannte eine solche Eigenmächtigkeit verständlicherweise nicht an und entfernte seinen aggressiven Opponenten vom Posten des Obermuftis. Gleichzeitig erklärte er ihn zum Feind des tschetschenischen Volkes, was in der Tradition des Bergvolkes einem Todesurteil gleichkam, das jeder tschetschenische Mann, der eine Abneigung gegenüber Abtrünnigen und Meuterern empfindet, vollstrecken darf.
Achmat-Hāddsch Kadyrow erkannte seine Enthebung nicht an und erklärte, er könne nur von denen abgesetzt werden, die ihn gewählt hätten – also von den Imams der Bezirke, jedoch nicht von einem islamfernen Oberhaupt der Republik. Parallel brachte der Mufti eine propagandistische Kampagne ins Rollen, mit der er beweisen wollte, dass Aslan Maschadow die Situation in Tschetschenien nicht im Griff habe und man seinen Entscheidungen nicht unbedingt Folge leisten müsse.
In Wirklichkeit jedoch war ihm klar, dass das Spiel gegen Dudajews Nachfolger im Alleingang eine gefährliche und vielleicht sogar undankbare Angelegenheit war. Kadyrow Senior wurde bewusst, dass er verlässliche Partner brauchte – innerhalb von Tschetschenien und seines Tejps Benoi –, die Jamadajews. Zu dieser Zeit machten vor allem die beiden älteren Brüder Ruslan (Chalid) und Sulim (Sulejman) von sich reden. Außerhalb sollten die föderalen Streitkräfte seine Partner sein, die es gerade nach einem Krieg dürstete, der allerdings diesmal nicht so wie 1994/96, sondern siegreich enden sollte.
Bald nach Beginn des Zweiten Tschetschenien-Krieges erklärten Achmat-Hāddsch Kadyrow und die Jamadajews die tschetschenischen Bezirke Gudermes und Kurtschalojewsk zu Gebieten außerhalb von Maschadows Machtbefugnissen und übergaben den anrückenden föderalen Truppen die zweitgrößte Stadt der Republik Gudermes. Diese Ereignisse versetzten den sich zur Wehr setzenden Adepten der Unabhängigkeit einen herben moralisch-politischen Schlag. Von nun an standen Kadyrow und seine Partner auf der Seite Moskaus. Eine Ablösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation brauchten sie nicht mehr.
Achmat-Hāddsch wurde bewusst, dass er viel mehr bekommen konnte als nur den formalen Status eines unabhängigen Staates auf einem heruntergewirtschafteten, zerschossenen und schwer lenkbaren Bergterritorium. Er konnte eine faktische Unabhängigkeit bekommen, die mit gigantischen finanziellen Geldflüssen aus Moskau fundiert war. Im Gegenzug musste er nur einen formalen Schwur der Loyalität gegenüber dem »weißen Zaren«, dem Hausherren des Moskauer Kremls tun.
Wie sagt der altchinesische Weise Kuàiliáng, eine Figur aus Luó Guànzhōngs bekanntem Roman Die Geschichte der drei Reiche , in dem er seinen Herrscher überredet, sich dem mächtigen Feind zu ergeben? »Gehorsam und Ungehorsam sind relativ, Stärke und Schwäche jedoch absolut.« Die Weisheit des mittlerweile verstorbenen Muftis Kadyrow lag darin, dass er sich optimal den Realitäten im russischen Nordkaukasus Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts anzupassen vermochte.
Entscheidend war nicht, die Unabhängigkeit auszurufen. Es reichte, Gehorsam anzudeuten und dafür irdisches Wohlergehen zu erlangen, von dem seine Vorfahren und auch er selbst, ein Kind der kasachischen Aussiedlung, nur hatten träumen können. Die Übersetzung der These von Kuàiliáng in die moderne Sprache der Monetokratie (der Allmacht des Geldes) konnte für Achmat-Hāddsch lauten: Gehorsam und Ungehorsam sind relativ, das große Geld und sein Fehlen
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