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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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fehlende Bein, sondern ihre Geschichte, ihr Überleben.«
    Und er hatte Recht. Wir haben sie auf die Säcke gebettet und sind in die Berge aufgebrochen. Er hat den ganzen Weg über sie gewacht, hat versucht, sie zu unterhalten und wohl auch meine Anspannung zu lösen. Zu diesem Zweck hat er mich nachgemacht, wie ich diesen viel zu schweren Wagen lenke, der mir mit jedem Kilometer zu beweisen scheint, dass er robuster ist als ich, als genügte es nicht schon, dass er sieben Tonnen wiegt! Juan hockte sich hin, die Arme vorgestreckt, schnitt Grimassen und ahmte völlig übertrieben nach, wie ich vor jeder Kurve alle Kraft zusammennehmen muss, um das Lenkrad zu drehen. Dieses Nachäffen wurde von Kommentaren begleitet, die ich mit meinem noch unzulänglichen Spanisch natürlich nicht in allen Nuancen verstehen konnte. Nach sechs Stunden Fahrt geschah es dann. Ich hatte beim Herunterschalten den Motor abgewürgt, fluchte und schlug mit der Faust aufs Lenkrad; ich bin immer noch ziemlich aufbrausend, weißt du. Für Juan war das natürlich ein gefundenes Fressen; er ließ sogleich einen Schwall von Flüchen los und hieb auf einen Kasten ein, der mein Lenkrad darstellen sollte. Und plötzlich begann die Kleine zu lachen.
    Erst ein kurzes helles Auflachen, gefolgt von einem Moment der Scham, dann ein zweites, das ungehemmt aus ihrer Kehle drang, bis schließlich der ganze Lastwagen davon erfüllt war. Ich hätte mir vorher niemals vorstellen können, welche Bedeutung das einfache Lachen eines Kindes bekommen kann. Im Rückspiegel sah ich, wie sie nach Luft rang. Inzwischen hatte sich auch Juan von dem hemmungslosen Gelächter anstecken lassen. Ich glaube, ich habe noch mehr geschluchzt als an dem Tag, als du mich am Grab meiner Eltern in den Arm genommen hast, nur dass ich damals innerlich weinte. Da war mit einem Mal so viel Leben, so viel Hoffnung; ich habe mich umgedreht, um sie zu betrachten, und inmitten ihres Gelächters nahm ich das Lächeln wahr, das Juan mir zuwarf. Die Barrieren der Sprache waren plötzlich aufgehoben ... Du, der du sie so gut beherrschst, erzähl mir, möglichst auf Spanisch, wie dein Essen nach dem Kinobesuch ausgegangen ist; das hilft mir, meine Kenntnisse zu vervollkommnen ...
    Er erkannte den Lastwagen, als er die ersten Kurven weit unterhalb des Dorfes in Angriff nahm. Er legte seine Arbeit nieder, setzte sich auf einen Stein und ließ den Wagen während der fünf Stunden seines beschwerlichen Anstiegs nicht aus den Augen. Rolando wartete seit dreizehn langen Wochen. Er hatte nicht aufgehört, sich zu fragen, ob die Kleine noch am Leben war, ob der Vogel, der hoch am Himmel flog, ein schlechtes Omen war und ihm bedeutete, dass sie nicht überlebt hatte, oder ob er hoffen durfte. Und mit den Tagen, die vergingen, deutete er die einfachsten Dinge seines Lebens immer öfter als Zeichen, die sich - je nach der Laune des Augenblicks - für das unkontrollierbare Spiel mit den pessimistischen oder optimistischen Auguren eigneten.
    An jeder Kurve drückte Susan dreimal kurz auf die Hupe mit dem heiseren Klang. Für Rolando war dies ein gutes Vorzeichen, ein langer Ton hätte das Schlimmste angekündigt, dreimal kurz aber, das konnte eigentlich nur eine gute Nachricht bedeuten. Mit einer knappen Armbewegung ließ er das braune Päckchen Paladines aus dem Ärmel gleiten. Sie waren sehr viel teurer als die Dorados, die er den ganzen Tag rauchte. Aus diesem Päckchen nahm er gewöhnlich nur eine Zigarette pro Tag, meist nach dem Abendessen. Er steckte sie in den Mundwinkel und zündete ein Streichholz an. Ein tiefer Zug, und er füllte die Lungen mit feuchter Luft, die nach Erde und Kiefernnadeln roch. Knisternd leuchtete die Glut am Zigarettenende hell auf. Heute Nachmittag würde das ganze Päckchen draufgehen. Er musste sich gedulden; sie würden den Pass erst bei Einbruch der Dunkelheit erreichen.
    Alle campesinos waren am Wegrand vor dem Dorf versammelt. Diesmal wagte niemand, aufs Trittbrett aufzuspringen. Susan verlangsamte das Tempo, und die Bewohner umringten den Wagen. Sie stellte den Motor ab, stieg langsam aus dem Führerhaus, sah nach rechts und links und hielt stolz den Blicken aller stand. Juan war hinter sie getreten, malte Kreise mit der Fußspitze in die Erde und versuchte, sich gelassen zu geben. Rolando stand ihnen gegenüber. Er schnippte seine Kippe weg.
    Susan holte tief Luft und ging um den Lastwagen herum. Die Menschen folgten ihr mit den Blicken. Rolando trat näher; nichts in

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