Wo bitte geht's nach Domodossola
Pause wird unser Ansager im Scheinwerferlicht erscheinen und so aufgeschreckt aussehen, als wollte er gerade in der Nase bohren. »Und damit auf Wiedersehen, bis zur nächsten Woche.«
Nach der Eintönigkeit von Hammerfest war Oslo eine Wohltat. Auch dort war es kalt, und gräulicher Schnee flog durch die Luft, aber nach Hammerfest kam es mir beinahe tropisch vor. Meine Pläne, eine Pelzmütze zu kaufen, gab ich bald auf. Ich besichtigte die Museen und machte einen Tagesausflug auf die Halbinsel Bygdoy, wo an bewaldeten Hängen, mit Blick über das eisige Wasser des Hafens, die schönsten Häuser der Stadt stehen. Meistens hielt ich mich jedoch im Stadtzentrum auf, schlenderte zwischen Bahnhof und Königspalast hin und her, betrachtete die Schaufenster an der Karl Johans Gate, ergötzte mich an all den vielen Lichtern, mischte mich unter die glücklichen, gesunden und unerbittlich jugendlichen Norweger und freute mich des Lebens, dankbar, Hammerfest entronnen und wieder in der taghellen Welt zu sein. Wurde mir kalt, setzte ich mich in ein Café, belauschte Gespräche, die ich nicht verstehen konnte, oder studierte meinen Thomas Cook European Timetable mit verhaltener Ehrfurcht und plante die weiteren Stationen meiner Reise. Der Thomas Cook European Timetable ist das wohl wunderbarste Buch, das je geschrieben wurde. Es ist unmöglich, seine 500 dicht mit Fahrplänen bedruckten Seiten durchzublättern, ohne zwei Armvoll Klamotten in seinen Koffer stopfen und sofort losfahren zu wollen. Jede Seite verspricht romantischen Zauber: »MontreuxZweisimmen-Spiez-Interlaken«, »Beograd-Trieste-Venezia-Verona-Milano«, »Göteborg-Laxå-(Hallsberg)-Stockholm«, »Ventimiglia-Marseille-Lyon-Paris«. Wen packt bei diesen Namen nicht das Fernweh? Wer kann sie lesen, ohne im Geiste einen dampfenden Bahnsteig vor sich zu sehen, auf dem es von erwartungsvollen Reisenden wimmelt, auf dem sich neben einem eleganten, endlos langen Zug Gepäckstücke türmen, um an die exotischsten Ziele befördert zu werden? Wer würde bei Namen wie »Moskva-Warszawa-Berlin-Basel-Geneve« nicht neidvoll auf die glücklichen Menschen blicken, die eine solch geschichtsträchtige Reise antreten? Nun ja, Sunny von Bülow zum Beispiel. Ich jedenfalls könnte stundenlang über diesen Fahrplänen hocken, jeder einzelne ein geheimnisvolles Dickicht aus Uhrzeiten, Zahlen, Entfernungen, mysteriösen, kleinen Piktrogrammen – wie Messern und Gabeln, Weingläsern, Kreuzen, Spitzhacken (was die wohl zu bedeuten haben?), Fährschiffen und Bussen – und von verwirrend abstrusen Fußnoten:
873-4 Von/nach Storlien – siehe Tabelle 473.
977 Lapplandspillen – siehe Tabelle 472.
Fahrtunterbrechungen nur zum Aussteigen.
An (7) Wagen in Zug 421.
k Reservierungen ratsam.
t An diesen Bahnhöfen kein Ein-und Aussteigen, x Über Västerås nur (4), (5), (6), (7).
Was mag das alles bedeuten? Ich habe keine Ahnung. Man kann das Thomas-Cook-Buch jahrelang studieren, ohne jemals seine tiefgründige Vielschichtigkeit ganz zu begreifen. Und doch handelt es sich hier um Dinge, die Einfluß auf unser Leben nehmen können. Wieviele Menschen landen alljährlich Hunderte von Kilometern von ihrem Ziel entfernt, weil sie eine Fußnote übersehen haben, die da lautet: »Ab Karlskrona nonstop bis zum nördlichen Polarkreis – siehe Tabelle 721 a/b. HeißwasserFlasche wird empfohlen. Schiffszwieback nur nach Murmansk. Rückfahrt über Anchorage und Mexicali. Oh Mann, oh Mann, diesmal hast du aber wirklich Scheiße gebaut, Kumpel?«
Hammerfest war nur so etwas wie eine Lockerungsübung. Von nun an sollte richtig gereist werden – und damit meine ich, von einem Ort zum anderen. Ich hatte große Lust, durch die Lande zu streifen. Ich wollte durch Europa ziehen, Plakate für Filme sehen, die niemals in Großbritannien gezeigt würden, staunend vor Reklametafeln voller exotischer Umlaute, Cedillen und øs stehen, die wie Parkverbotsschilder aussehen, Popsongs hören, die beim allerbesten Willen nur in ihrem eigenen Land zu einem Hit werden konnten, Leute treffen, deren Wege sich nie wieder mit den meinen kreuzen würden. Ich wollte irgendwo sein, wo mir alles hoffnungslos fremd war, vom Funktionieren eines öffentlichen Telefons bis zu den Eßgewohnheiten.
Ich wollte mich verblüffen und bezaubern lassen, die unermeßliche, verführerische Vielfalt eines Kontinents erleben, auf dem man irgendwo in einen Zug steigt und eine Stunde später an einem Ort sein kann, an dem die
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