Wo Dein Herz Zu Hause Ist
zur Zeit löscht er am Dock eine Papierladung. Mam lässt sich
wirklich gehen. Früher hat sie immer ihr Haar gefärbt, aber jetzt ist es richtig grau. Lange, graue Haare sehen komisch aus. Ich verstehe, warum die Leute sie unheimlich finden. Dr. B. versucht immer noch, sie zu ein paar Untersuchungen zu überreden, aber da könnte er genauso gut an eine Wand reden.
Ich versuche auch, Father Ryan aus dem Weg zu gehen, aber aus irgendeinem Grund steht er jedes Mal vor mir, wenn ich mich umdrehe. Ständig fragt er mich irgendetwas, immer will er mit mir über Geduld und die Liebe Gottes und was weiß ich noch reden. Ich stelle auf Durchzug. Ich glaube, er hat immer noch ein schlechtes Gewissen, weil er Mam dazu gebracht hat,
ihn
wieder einziehen zu lassen, aber nur, weil ihm Dr. B. erzählt hat, dass
er
mich betatscht hat.
Der arme Father Ryan, er will nur das Beste. Kürzlich ist er in die Schule gekommen, und wir haben zusammen zu Mittag gegessen. Sheila ist abgehauen, sie will nicht mit einem Pfarrer gesehen werden, aber mir ist das egal. Er ist eigentlich ganz nett und manchmal sogar witzig. Er mag Autos nicht und schimpft dauernd über sie, und Wärme mag er auch nicht. Das muss man sich mal vorstellen. Er sagt, wenn es warm wird, juckt seine Haut. Er mag es lieber kühl. Ich habe gesagt, dann könnte er ja nach Polen umziehen, und er meinte, das könnte er sich ja einmal überlegen. Als er gegangen ist, hat er mir die Haare genauso zerzaust, wie es Henry bei Matthew macht. Es ist schön, wenn sich jemand um einen sorgt, auch wenn es ein Pfarrer ist, der einen in ein Kloster schicken würde, sobald er etwas von einer Schwangerschaft mitbekäme. Ich hoffe bloß, dass ich dünn bleibe. Ich hoffe, niemand merkt etwas. Manchmal bekomme ich Hunger, und es ist mir nicht schlecht, aber ich versuche dann, trotzdem möglichst nichts zu essen, denn wenn sie es herausfinden
, könnte damit alles vorbei sein, alles, was wir uns erhoffen. Matthew meint, ganz egal, was passiert, wir gehen nach Kentucky. Er wird dafür sorgen. Ich weiß, dass wir es schaffen. Ich kann es kaum erwarten. Noch vier Monate!!
24 Voll das Leben
Harris Telefon begann im gleichen Moment wie ihr Wecker zu klingeln. Kurz nachdem das Piep-Piep des Weckers eingesetzt hatte, ertönte von ihrem Handy die Melodie zu dem Pussycat-Song
Loosen Up My Buttons
. Sie fuhr im Bett hoch.
George, gewöhn dir endlich ab, an meinem Klingelton rumzuspielen!
Sie stellte den Wecker ab und nahm das Gespräch an.
«Bin wach.»
«Gut. Uhrenvergleich für die Aktion
Du kannst mich mal, Gerry
», flüsterte Melissa in ihrer Küche, während Gerry und Carrie im ersten Stock noch tief und fest schliefen. Jacob saß mit einer Schale Müsli vor
Scooby-Doo
.
Sie hatte Jacobs Schulbrote vorbereitet und seinen gepackten Ranzen an die Garderobe gestellt. Tags zuvor hatte sie dafür gesorgt, dass genug zu essen im Haus war und Mrs. Rafferty wie üblich um halb neun kommen würde, um sich um Carrie zu kümmern (sie hatte ihre Erkältung hinter sich und schniefte nur manchmal noch ein bisschen). Aber danach wäre Melissas Familie drei Tage auf sich allein gestellt.
Sie nahm ihren Koffer, den sie unter der Treppe versteckt hatte, und wartete schon vor dem Haus, als das Taxi in die Straße einfuhr.
Sevilla, wir kommen!
Harri stand in der Schlange am Check-in-Schalter. Sie hatte bisher kaum mehr als die Worte «Guten Morgen» herausgebracht. Plötzlich drückte sie Melissa einfach ihr Ticket und ihren Pass in die Hand und ging weg. Melissa wunderte sich nicht weiter darüber, denn Harri war bekanntermaßen ein klinischer Fall, wenn es um Gespräche vor acht Uhr morgens ging. Da es bis acht Uhr noch zwei Stunden waren, hatte Melissa mit diesem Schweigen nicht nur gerechnet, sondern war sogar dankbar dafür. Sie war fast an der Reihe, als Harri mit zwei Kaffee wieder kam. Schweigend reichte sie einen Melissa, die ihn schweigend entgegennahm, und schweigend nippten sie an ihren Bechern, bis sie aufgerufen wurden.
Es waren nicht viele Passagiere im Flugzeug. Melissa saß am liebsten am Fenster. Harri bevorzugte einen Gangplatz. Der mittlere Sitz blieb frei, sodass sie darauf ihre Zeitungen und Zeitschriften deponieren konnten sowie eine Tüte Bonbons, die Melissa unbedingt beim Start und der Landung lutschen wollte. Um Viertel nach acht hob das Flugzeug ab, und Reden war wieder erlaubt. «Meine Tante Noreen hat bei so einem Flug einmal Ohrenbluten bekommen», sagte
Weitere Kostenlose Bücher