Wo Dein Herz Zu Hause Ist
Gute Nacht.» Und damit stand sie auf.
«Gute Nacht, meine Süße.»
Kurz darauf lag Susan hellwach und allein in ihrem Ehebett.
Es war nach Mitternacht, als Harri anrief.
«Entschuldige. Ich habe fast den ganzen Abend geschlafen. Ich habe deine Nachrichten jetzt erst abgehört.»
«Das macht nichts. Ich bin froh, deine Stimme zu hören.»
«Ist bei der Arbeit alles in Ordnung?»
«Danach musst du nicht fragen. Es läuft alles gut.»
«Bei mir auch. Mir geht’s gut.»
«Lügnerin.»
Harri lachte ein bisschen. «Du hast recht. Ich habe gelogen.»
«Erzähl mir, was dir durch den Kopf geht.»
«Das kann ich nicht, ich bin zu durcheinander.»
«Versuch’s.»
«Ich weiß genau, dass du auf meinem Anrufbeantworter gesagt hast, du wirst nicht mit mir darüber reden wollen.»
«Dann haben wir eben beide gelogen.» Susan lachte kurz und wartete dann schweigend darauf, dass Harri anfangen würde zu sprechen. Nach einem kurzen Moment ging Harri auf diese stille Aufforderung ein. «Es kommt mir so vor, als würde ich den Verstand verlieren. Es kommt mir so vor, als hätte ich diesen Zusammenbruch schon seit ewigen Zeiten unterdrückt. Es kommt mir so vor, als würde mich irgendetwas in meinen Inneren auffressen. Ich habe Kopfschmerzen, mein ganzer Körper tut mir weh. Ich habe ständig Angstzustände. Ich bin am Rand der Verzweiflung, Susan, und ich habe das Gefühl, wenn ich mich gehenlasse oder auch nur aufhöre, dagegen anzukämpfen, könnte ich jeden Augenblick verrückt werden.»
Susan seufzte und schloss einen Moment lang die Augen. Dann konzentrierte sie sich. «Also, die gute Nachricht dabei ist, dass du nicht depressiv bist.»
«Wie bitte?»
«Bei uns liegen Depressionen in der Familie. Du bist viel zu selbstbewusst, um eine klinische Depression zu entwickeln. Das sind gute Nachrichten, das kannst du mir glauben.»
«Also?» Harri spürte schon wieder Tränen aufsteigen.
«Also hast du, was immer auch geschieht, die Kontrolle. Du kannst die Situation im Griff behalten.»
«Ich weiß nicht recht.»
«Doch, das weißt du.»
«Susan?»
«Ja.»
«Ich bin immer noch so unheimlich müde.»
«Dann schlaf einfach.»
«Ich versuch’s.»
«Ich rufe dich morgen wieder an, und du nimmst das Telefon ab!», bestimmte Susan.
«Ist gut.»
«Gut.» Susan legte auf.
Es war fast zwanzig nach zwölf, und ihr Mann war immer noch nicht von der Arbeit zurück – kein Anruf, keine Erklärung, kein Garnichts. Beth hatte recht, es war einfach – aber sie hatte auch wieder nicht recht. Was verstand eine Sechzehnjährige schon vom Leben?
27. Mai 1975 Freitag
Heute war der letzte Schultag für acht lange Wochen. Jipiie! Ich weiß nicht genau, wie man Jipiie schreibt, aber so fühle ich mich. Mr. Murphy hat uns früher gehen lassen. Sheila, Dave und ich sind in den Wald gegangen. Dave ist doch nicht so übel. Ich meine, er ist immer noch ein kompletter Idiot, aber ich mag ihn jedes Mal, wenn ich ihn sehe, ein bisschen mehr. Er ist nett, zwar langweilig, aber nett. Er versucht ein Mann zu sein, und wenn das nicht klappt, wird er wieder ein kleiner Junge – meistens ist er ein kleiner Junge. Sheila sieht das nicht. Sie sieht etwas anderes. Die Leute sind komisch. Das Leben ist komisch. Dave raucht, und deshalb raucht Sheila jetzt auch. Bescheuert! Sie riecht furchtbar und hustet, aber sie behauptet, es wäre cool und ihr gefiele es. Dave sagt, wenn er raucht, kommt er sich vor wie Steve McQueen. Kann ja sein, aber er sieht garantiert nicht aus wie Steve McQueen. Sheila hat gesagt, ich soll auch mal eine rauchen, aber das Leben ist schon schwer genug, ohne dass man husten muss und stinkt. Mein Charlie ist schon fast leer. Ich muss Geld verdienen, damit ich wieder gut rieche.
Am Montag fange ich mit meinem Job an. Das ist in Ordnung, ich freue mich sogar darauf. Letzten Samstag, als ich mir noch einmal alles angesehen habe, hat Henry gesagt, ich hätte ein Händchen für Pferde. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber ich mag sie. Ich mag ihre Augen, vor allem die von Betsy – es ist, als könnte sie mir direkt ins Herz
sehen. Das klingt merkwürdig und das ist es vielleicht auch, aber sie kann es wirklich. Ich mag sie unheimlich. Sie ist alt. Die Anfänger reiten auf Betsy, sie ist langsam und vorsichtig und schlau genug, um zu wissen, dass sie in Wirklichkeit der Boss ist. Betsy ist lieb. Bei ihr habe ich keine Angst. Wenn ich sie sehe, habe ich sogar Lust, selbst zu reiten. Henry hat gesagt,
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