Wo Dein Herz Zu Hause Ist

wäre furchtbar – dann sehe ich mit fünfundzwanzig aus wie meine Granny. Dr.   B. hat gesagt, mit dem Make-up hat er mich fast nicht erkannt. Ich habe ihm erzählt, dass ich Bier kaufen kann, seit ich dreizehn bin. Er hat die Stirn
gerunzelt und ein Gesicht gezogen, aber ich habe gesagt, wenn er mir erzählen kann, dass er mich attraktiv findet, kann ich ihm erzählen, dass ich Bier kaufen kann. (Dass ich den Geschmack scheußlich finde, habe ich ihm nicht gesagt.) Er ist ziemlich rot geworden, meinte dann aber, das sei ein gutes Argument. Es tut ihm ganz klar total leid, dass er mir sein Geheimnis verraten hat, und ich glaube nicht, dass er weiß, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Ich glaube, es war so ungefähr wie ein Fass, das kurz vor dem Überlaufen war, und ich war eben einfach zufällig da, als es dann passiert ist.
    Egal. Dienstag hatte ich frei, also bin ich per Anhalter nach Bray gefahren und habe den halben Tag in der Buchhandlung verbracht, um das richtige Geschenk zu seinem Einzug zu suchen. Am Schluss habe ich es durch Zufall gefunden. Ich habe mir in der Ecke ein paar gebrauchte Bücher angesehen, und da ist mir
Auf der Suche nach Indien
in die Hände gefallen, das meine Granny mir vorletztes Jahr geschenkt hat. Ich bin fast umgefallen. Als ich es bekommen habe, dachte ich zuerst, es wäre ein uninteressanter Reisebericht, weil ich ja sowieso nie nach Indien fahren wollte. Echt, ich würde ja nicht mal verstehen, was die Leute dort sagen. Allerdings hatte ich mich getäuscht. Es war ein toller Roman über einen armen indischen Arzt, der unter britischer Herrschaft lebt, was eigentlich bedeutet, dass sie dort Englisch sprechen, oder? Also, im Buch sprechen sie jedenfalls Englisch. Ich weiß auch nicht. Meine Güte, ich habe wirklich von nichts eine Ahnung. Auf jeden Fall wird er zu Unrecht beschuldigt, bei einem Ausflug in irgendwelche Höhlen eine Engländerin mit einem blödsinnigen Namen betatscht zu haben, und dann ist die Hölle los. Das Buch ist wirklich gut. Ich konnte überhaupt nicht aufhören zu lesen. Sie hatten noch mehr
Bücher von dem Autor –
Howards End
(kam mir ziemlich langweilig vor) und
Zimmer mit Aussicht
, schätze mal, da gibt es ein paar Sex-Szenen. Dann hatten sie noch
Maurice
, und das ist eine Geschichte, in der es um Homosexualität geht. Ein Mann liebt einen Mann! Unglaublich! Also habe ich
Zimmer mit Aussicht
und
Maurice
gekauft, und der Verkäufer hat mich dreckig angegrinst, als er die Titel gesehen hat, aber er hat mich nicht nach meinem Alter gefragt, weil ich meine Schuluniform nicht anhatte und geschminkt war. Gestern Abend habe ich mit
Maurice
angefangen (Dr.   B. kriegt sowieso nicht mit, dass es ein gebrauchtes Buch ist). Echt, ich glaube, manche Passagen kann ich nur mit zugehaltenen Augen lesen, sonst werde ich rot. Ich bin noch am Anfang, aber mir tun Maurice und Clive jetzt schon leid. Ich gebe Dr.   B. das Buch, wenn ich es ausgelesen habe. Ich hoffe, es gefällt ihm. Ich hoffe, es gibt ein Happy End. Wenn nicht, gebe ich es ihm vielleicht doch nicht. Ich weiß nicht. Das muss ich mir noch überlegen.
    Er
verhält sich weiterhin ruhig. Er hat kein Wort zu mir gesagt, und ich habe kein Wort zu ihm gesagt. Mam tut so, als würde sie nichts mitbekommen. Father Ryan war zwei Mal zu Besuch, und vor ein paar Tagen haben sie alle drei im Wohnzimmer auf dem Boden gekniet, den Rosenkranz gebetet und anschließend in der Küche Tee getrunken und Kekse gegessen. Mir wird schlecht, wenn ich bloß daran denke. Father Ryan hat gefragt, ob ich mit ihnen beten will, aber ich habe gesagt, auf keinen Fall. Mam hat mir später erzählt, dass ich dabei diesen Blick draufhatte, bei dem sogar der Teufel Angst bekommt. Stark! Wenn Father Ryan denkt, ein oder zwei Rosenkränze, ein paar Tassen Kaffee und eine Handvoll Kekse würden irgendetwas ändern, ist er wirklich ein Hohlkopf. Und wenn er glaubt, er hätte etwas Gutes damit
getan, dass er Mam überredet hat,
ihn
wieder bei uns einziehen zu lassen, dann irrt er sich gewaltig.
    Seit drei Tagen habe ich Matthew nicht gesehen. Sein Dad ist ohne seine Tusse zurückgekommen und anschließend mit Matthew irgendwohin nach Spanien gefahren. Er hat nicht gesagt, warum er wollte, dass Matthew dabei ist, aber er redet ja sowieso nicht mit ihm, außer wenn er ihn rumkommandiert. Jedenfalls kommen sie erst Mitte nächster Woche zurück. Ich vermisse Matthew. Ich wünschte, er wäre schon wieder da. Sheila habe ich auch