Wo Dein Herz Zu Hause Ist
äußerst ungern. Harri hatte Irland erst wenige Male verlassen und sich der bedrohlichen Fremde ausgesetzt, die das Ausland in ihren Augen darstellte. Und der Anlass für diese paar Reisen war meistens der gewesen, dass sie sich mit dem Mann traf, den sie bis vor kurzem für ihren Zwillingsbruder gehalten hatte.
George hatte zum Beispiel darauf bestanden, dass sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag zusammen feierten, sich aber gleichzeitig geweigert, Cape Cod zu verlassen, sodass Harri und ihre Eltern gezwungen waren, zu ihm zu fahren. Als sie achtzehn waren, war sie nach Biarritzgeflogen, wo er an einem Surferwettbewerb teilnahm, obwohl ihre Eltern ihm wegen der anstehenden Prüfungen zum Schulabschluss verboten hatten, dort mitzumachen. Er hatte sich den Knöchel gebrochen und brauchte die Ersparnisse seiner Schwester, um die Krankenhausrechnung zu bezahlen, und ihre Schulter, um sich beim Rückflug auf ihr abzustützen. Ihre Eltern waren gerade auf ihrer sechswöchigen, lange geplanten zweiten Hochzeitsreise in Australien, und als sie nach Irland zurückkehrten, hatte sich George den Gips ein bisschen verfrüht schon wieder abnehmen lassen. Sie erfuhren nie, dass er sich über ihr Verbot hinweggesetzt hatte.
Außerdem war Harri einmal nach Venedig gefahren, weil George sie darum gebeten hatte. Damals war die Beziehung mit seiner ersten großen Liebe auseinandergegangen, einem Mann namens Jeff Moon, und George war völlig am Ende. Mr. Moon hatte in Wahrheit nie etwas an George gelegen, doch bis George selbst diese traurige Tatsache erkannte, hatte er sich schon unsterblich verliebt. Jeffrey war zehn Jahre älter als George und betrachtete ihn lediglich als nette kleine Affäre. Er beendete die Geschichte auf langsame, grausame Weise, indem er ihre Beziehung nach und nach im Sand verlaufen ließ und nur mit George schlief, wenn er zufällig gerade Sex wollte oder sich langweilte. George tat alles, um ihm zu gefallen. Er glaubte, wenn er sich auf eine bestimmte Art benähme, ein bestimmtes Aftershave benutzte oder sich auf eine bestimmte Art anzöge, würde er Jeffrey zurückgewinnen. Als Jeffrey schließlich jemanden fand, der mehr nach seinem Geschmack und außerdem in einem passenderen Alter war, brach er den Kontakt ohne weiteren Kommentar vollständig ab und brach George das Herz.
Und jetzt fuhr Harri wieder einmal zu George. Als er sie angerufen hatte, hatte Panik in seiner Stimme gelegen, denn er war aufgewacht und hatte im Spiegel gesehen, dass man ihm offenbar die Nase eingeschlagen hatte. Noch während er mit Harri telefonierte, war er vollkommen betrunken und redete in einem heiseren Italienisch mit ihr. Sie musste ihn daran erinnern, dass sie kein Italienisch sprach, und fragte, ob er es schaffen würde, mit ihr auf Englisch zu sprechen. Er begann also seine dreitägige Sauftour zu schildern, die mit einer harten Rechten in seinem Gesicht geendet hatte.
Als sie in seinem Hotel angekommen war und an seine Zimmertür klopfte, schlief er tief und fest.
«Chi c’è?»
, hörte sie nach wiederholtem Klopfen seine erschöpfte Stimme.
«George?»
«Chi c’è?»
«George, ich bin’s, Harri.»
Ich hasse das
.
«Harri? Sei tu?»
George war offenbar immer noch nicht richtig wach.
«Ich bin’s, Harri. Deine …» Das Wort Schwester blieb ihr im Hals stecken. «Lass mich endlich rein, verflixt nochmal, oder hier passiert was.»
Die Drohung schien zu wirken. George öffnete die Tür, warf eine viel zu lange Haarsträhne aus der Stirn und gab so den Blick auf zwei Veilchen und eine geschwollene Nase frei.
«Was machst du denn hier?», fragte er erstaunt. Ihr Telefonat hatte er anscheinend glatt vergessen, aber er schien trotzdem froh zu sein, dass Harri da war.
«Meine Güte, George! Wie du aussiehst!» Sie folgte ihm ins Zimmer.
Er warf einen Blick in den Spiegel. «Oh, jetzt verstehe ich, warum mein Gesicht so wehtut.» Dann fragte er kleinlaut: «Hab ich dich angerufen?»
Sie nickte.
«Alte Gewohnheiten wird man eben schwer los», sagte er und setzte sich auf die Bettkante. Er sah auf die Uhr. «Du hast garantiert einen neuen Weltrekord aufgestellt.»
«Davon kannst du ausgehen.» Sie lächelte ihn an. Die Vertrautheit der Situation wirkte beruhigend auf sie. Sie setzte sich auf die andere Seite des Bettes. «Du musst zum Arzt.»
«Nein, es geht schon», widersprach er.
«Nein, tut es nicht.»
«Tut mir leid, dass ich angerufen habe. Ich war betrunken.»
«Braucht es nicht, und das
Weitere Kostenlose Bücher