Wo Dein Herz Zu Hause Ist
neuen Hortplatz.»
«Warum hat er das andere Kind denn gebissen?»
«Anscheinend aus Mitleid. Er dachte, wenn er an jedem Ohr ein bisschen was abbeißt, hätte das Kind genauso normal große Ohren wie alle anderen.»
Harri lachte.
«Das ist nicht lustig.»
«Ich weiß, tut mir leid.»
Es ist verdammt lustig
.
«Ich war grade in einem Meeting mit einem neuen Kunden, und jetzt bin ich unterwegs, um Jacob abzuholen, weil Gerry Oberwichtig natürlich keine Zeit hat. Hast du übrigens gewusst, dass sein Job viel bedeutender ist als meiner?»
«Ich würde dir ja gerne helfen, aber ich stecke in einem Stau auf der M50.»
«Ist schon gut. Mach dir keine Sorgen. Und hast du inzwischen mit deinen Eltern gesprochen?»
«Nein.»
«Hast du es noch vor?»
«Heute nicht.»
«Aha. Ich rufe dich später nochmal an.»
Wieder vergingen ein paar Stunden.
«Jacob und Gerry haben sich einen Brüllwettbewerb geliefert. Ich sag’s dir, dieser Mann ist genauso schlimm wie ein Kleinkind. Jacob hat einen rekordverdächtigen Wutanfall bekommen und sich schließlich vor lauter Erschöpfung und Ärger über seine grausamen Eltern in den Schlaf weinen müssen. Gerry sitzt total schlecht gelaunt in der Badewanne. Außerdem haben sie mit ihrem Geschrei Carrie geweckt, die jetzt glaubt, es wäre früher Morgen und damit ihre liebste Zeit zum Spielen. Steck das nicht in den Mund, Schätzchen. Nein, Schatz! Bitte steck das nicht in den Mund. Eine Sekunde mal. Carrie, neinneinnein! So, wo war ich stehengeblieben?»
«Jacob hat sich in den Schlaf geweint, Gerry sitzt im Bad, und Carrie denkt, es wäre Morgen», fasste Harri zusammen.
«Ich hasse mein Leben.» Melissa seufzte.
Harri lachte. «Ich sehe mir gerade die dritte Episode CSI hintereinander an, und ich fürchte, ich habe genau diese Episode gestern schon gesehen und vorgestern übrigens auch.»
«Oh.»
«Genau.»
«Hast du mit deinen Eltern gesprochen?»
«Du bist wirklich erbarmungslos.»
Und so war es eine Erleichterung für alle, als Harri mit ihrem Bruder im Schlepptau aus Italien zurückkam und genügend Mut zusammenkratzen konnte, um ihre Eltern zu besuchen.
6. Juli 1975 Sonntag
Ich habe bei der Eliana gesessen und ohne an irgendwas zu denken aufs Wasser geschaut. Ich habe
ihn
nicht bemerkt, bis er neben mir saß. Vermutlich war ich in meinen Tagträumen viel zu weit weg von der Wirklichkeit. Es war noch früh. Neun Uhr oder vielleicht halb zehn. Dann habe ich seinen Arm um meine Schultern gespürt. Ich wollte weg, aber ich war zu langsam. Er hat mich festgehalten. Er hatte vermutlich die ganze Nacht getrunken. Sein Atem stank nach Alkohol. Als er sich zu mir gebeugt hat, um mich zu küssen, habe ich ihm so fest auf den Fuß getreten, wie ich konnte. Er hat aufgeschrien, dabei seinen Griff ein bisschen gelockert, und ich bin losgerannt. Er hat hinter mir hergebrüllt, dass ich auf ihn gewartet und dass ich es selber gewollt hätte.
Ich verstehe nicht, dass ich ihn nicht habe kommen sehen. Ich verstehe nicht, wie ich ihn so nahe an mich heranlassen konnte. Ich weiß nicht, ob er recht hatte. Er war so betrunken, dass er sich unmöglich leise angeschlichen haben kann, mal ganz abgesehen von dem erbärmlichen Gestank fünf Meter gegen den Wind! Wo war ich bloß mit meinen Gedanken, dass ich nichts gesehen, nichts gehört und auch sonst nichts bemerkt habe? Was stimmt bloß nicht mit mir? Matthew kann ich das nicht erzählen. Er würde etwas unternehmen, und dann bekämen wir Ärger. Ich verstehe nicht, dass
er
damit durchkommt, aber er kommt damit durch. Er kann machen, was er will, er hat nämlich einen Trauschein
, und damit kann er sich praktisch alles erlauben. Ich wollte danach nicht nach Hause, also bin ich gelaufen und gelaufen, an der Festung vorbei und ans Ufer und weiter bis auf den Hügel und um die Leuchttürme und auf der anderen Seite entlang bis zu den Klippen. Ich habe mich ganz vorne auf den Rand gesetzt, und obwohl ich mich vermutlich nie umbringen würde, habe ich zum ersten Mal daran gedacht, wie leicht es wäre. Es ist mir nur kurz durch den Kopf gegangen, und ich könnte Matthew sowieso nie verlassen, aber so war’s. Mir ist klar geworden, dass er der Einzige ist, für den sich mein Dasein überhaupt lohnt. Danach zurückzugehen war richtig schwer. Und meinen Schlüssel ins Schloss zu stecken und aufzuschließen war noch schwerer. Ich habe unser kleines Haus in der Castle Street früher so gemocht. Es hat mir gefallen, dass wir in der
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