Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
seine Aufzeichnungen. „Zwei Mal, Frau Semmler. Das letzte Mal vor zwei Stunden, da sagte er, dass man ihn keine Ruhe gibt.“
„Ein Fall von Paranoia. Kann es bei Sterbenden geben, sagt Frau Reiff.“
„Dann wäre er bestenfalls halb klar gewesen“, meinte der Professor.
„Er war vollkommen klar, daran gibt es nichts zu deuteln“, betonte der Helfer. „Frau Semmler redete mit Manfred noch über sein Befinden und die Luft im Raum, der Dialog war ganz normal. Wollt ihr‘s Hören?“
Erneut bediente der Helfer sein Smartphone und sogleich hörte man den Dialog zwischen Manfred und Ilona, der seine Einschätzung eindrucksvoll bestätigte.
„Sag‘ mal, spinnst Du? Hat man dir die Erlaubnis gegeben, die Gespräche aufzunehmen? Das darf doch wohl nicht wahr sein...“
Ilona ergriff den Arm des Professors. „Das macht nichts. Dein junger Helfer wird hier von allen gern gesehen. Und seine Generation ist halt immer auf dem neuesten Stand der Technik. Sie“, Ilona richtete jetzt ihren Blick zum Helfer, „lassen mich entscheiden, was mit der Aufzeichnung gemacht wird?“
Der Helfer merkte, dass das nicht angebracht war, was er getan hatte. „Das wollte ich sowieso machen. Ich dachte das als eine Art Geschenk für Sie.“
„Ich dachte, dass sie das dachten“, sagte Ilona und lächelte; augenblicklich freute sie sich darüber, trotz der Umstände so gut reagieren zu können. „Es war wohl das letzte Mal, dass ich Manfred geistig klar erlebt habe... Lasst uns wieder hoch gehen.“
Sofort stand der Helfer auf, der Professor folgte etwas langsamer. Zurück im Zimmer, erzählte Frau Reiff über ein weiteren Wachanfall Manfreds. „Er sprach über fürchterliche Schmerzen, er schien bei Verstand zu sein.“
„Haben Sie die Mischung geändert?“, fragte Ilona und schaute auf die Spritzenpumpe, ein Gerät, mit dem Manfred intravenös regelmäßig Schmerzmittel ins Blut gepumpt wurde, damit die Wirkstoffkonzentration möglichst konstant bleibt.
„ Opoide, Scopolamin und Morphin. 30 Milliliter die Stunde.“
Ilona wusste mittlerweile einiges über Medikamente. „Viel mehr geht nicht.“
„Wollen Sie alleine mit ihm sein?“, fragte Frau Reiff.
„Du bleibst bei mir“, sprach Ilona und schaute zum Professor. Einen Moment überlegte sie. „ Höttges bleibt liegen, wo er ist und der junge Mann achtet auf alles.“
Alle hatten sehr leise gesprochen, denn Sterbende können sehr geräuschempfindlich sein. Lange Zeit redete nun keiner mehr was. Fragen wie die, ob und wann jemand etwas zu essen oder zu trinken oder sich zum Ruhen hinzulegen gedenkt, spielten keine Rolle; unausgesprochen ging man davon aus, dass die Sterbenswache jetzt von keiner Pause mehr unterbrochen wird.
Ilona und der Professor hatten sich mit ihren Stühlen nah ans Bett gesetzt und saßen sich gegenüber. Ihr Blick haftete an Manfreds Gesicht, dessen Atem mit der Zeit schneller wurde, was im Moment das einzige Geräusch darstellte, das vernommen werden konnte. Die durch die große Fensterfront immer stärker einfallende Sonne ließ den Raum größer erscheinen als er war, ganz so, als ob sie ihn zum Mittelpunkt der Welt erklären wollte. Alle Anwesenden blieben starr in ihrer Körperhaltung, selbst der Hund. Für Ilona schien eine Ewigkeit zu vergehen; sie glaubte gerade zu erfahren, warum es heißen kann, dass die Zeit stehengeblieben ist.
Und dabei glaubte sie dann irgendwann augenblicklich den Sekundenzeiger einer Uhr seine Arbeit aufnehmen zu hören, als Manfred sich räusperte und den Kopf leicht zu ihrer Seite bewegte. Er blinkte leicht mit den Augen. „Die Blumen, die du in den Seminarraum gestellt hattest, waren schön. Deswegen habe ich sie später aufgegessen. Nicht böse sein. Verzeih mir.“
Ilona und der Professor wussten ohne Verzögerung, dass Manfred von dem Referat gesprochen hatte, dass er mit Ilona 1968 in dem Räumen des Frankfurter Instituts gehalten hatte und für das Ilona einen Strauß bunter Blumen auf den Tisch gestellt hatte, weil das die Kommilitonen in Kalifornien auch so machten.
Ilona wollte auf die einfachste Art helfen. Sie sagte „Ja, mein Schatz“ und drückte fest seine Hand.
Manfreds Stimme war erneut zu hören. „Adolf Wegemann hat Kiesinger umgebracht, diesen Schweinekerl. Er hat es gern getan.“
Ilona öffnete den Mund und suchte den Blick des Professors. Mit welchem Worten kann sie jetzt ihren Mann richtig begleiten? Ilona beließ es beim festen Händedruck.
Alsbald folgten weitere
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