Wo die Nacht beginnt
Miniaturen keinesfalls.« Die Identität des Porträtierten spielte bei solchen Schätzungen eine entscheidende Rolle. »Wir werden nie erfahren, wer die beiden waren. Nicht nach so vielen Jahrhunderten in der Dunkelheit. Namen sind wichtig.«
»Das sagt meine Großmutter auch immer.«
»Dann ist ihr bewusst, dass der Wert dieser Miniaturen wahrscheinlich nicht steigen wird, solange sie nicht zugeordnet werden können?«
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Marcus, »erwartet meine Großmutter nicht, mit dieser Investition Gewinn zu erzielen. Und Ysabeau wäre es am liebsten, wenn niemand sonst erführe, wer die beiden sind.«
Phoebe sah ihn stirnrunzelnd an. Glaubte seine Großmutter etwa, sie wüsste, wer die beiden waren?
»Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Phoebe, selbst wenn wir sie im Stehen abgewickelt haben. Diesmal.« Marcus verstummte und schenkte ihr ein betörendes Lächeln. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie Phoebe nenne?«
Es machte Phoebe sehr wohl etwas aus. Sie rieb sich irritiert den Hals und warf ihr schwarzes, schulterlanges Haar nach hinten. Marcus’ Blick senkte sich auf ihre geschwungene Schulter. Als sie nichts sagte, schloss er die Schatulle mit den Miniaturen, klemmte sie sich unter den Arm und trat zurück.
»Ich würde Sie gern zum Essen einladen«, sagte er freundlich, so als hätte er Phoebes abweisende Signale gar nicht bemerkt. »Wir könnten das Glück der Taverners feiern und dazu die beträchtliche Kommission, die Sylvia mit Ihnen teilen wird.«
Sylvia? Ihre Kommission teilen? Phoebe blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. Die Chance, dass ihre Chefin so etwas tun würde, war verschwindend gering. Marcus’ Miene verdüsterte sich.
»Das war eine Bedingung für diesen Deal. Ansonsten hätte meine Großmutter nicht zugestimmt.« Er klang wieder schroff. »Abendessen?«
»Ich gehe nach Einbruch der Dunkelheit nicht mit Fremden aus.«
»Dann werde ich Sie morgen Abend zum Essen einladen, nachdem wir uns zum Mittagessen getroffen haben. Nachdem Sie zwei Stunden in meiner Gesellschaft verbracht haben, bin ich Ihnen bestimmt nicht mehr fremd.«
»Oh, Sie werden mir trotzdem fremd sein«, murmelte Phoebe, »und ich gehe mittags nicht essen. Ich esse am Schreibtisch.« Sie wandte verdattert den Blick ab. Hatte sie den ersten Halbsatz wirklich laut ausgesprochen?
»Ich hole Sie um eins ab.« Marcus’ Lächeln wurde breiter. Phoebe stockte das Herz. Sie hatte es tatsächlich laut ausgesprochen. »Und keine Angst, wir werden nicht weit gehen.«
»Warum nicht?« Glaubte er etwa, sie hätte Angst vor ihm oder könnte mit seinen langen Schritten nicht mithalten? Mein Gott, wie sie es hasste, so klein zu sein.
»Ich wollte Ihnen nur versichern, dass Sie auch morgen diese Schuhe tragen können, ohne Angst haben zu müssen, dass Sie sich den Hals brechen«, erklärte Marcus mit Unschuldsmiene. Sein Blick wanderte langsam von den Zehen über die schwarzen Lederpumps, ruhte kurz auf ihren Fesseln und kroch dann an ihrer Wade aufwärts. »Die gefallen mir nämlich.«
Für wen hielt sich dieser Mann eigentlich? Er benahm sich wie ein viktorianischer Wüstling. Phoebe marschierte so entschlossen auf die Tür zu, dass die Absätze mit einem beruhigend scharfen Klicken auf dem Parkett aufsetzten. Sie drückte den Knopf, der das Schloss entriegelte, und zog die Tür auf. Mit einem wohlwollenden Brummen kam Marcus auf sie zugeschlendert.
»Ich weiß, ich bin zu forsch. Meine Großmutter missbilligt das fast so sehr, wie sie es missbilligt, bei einem Geschäft übervorteilt zu werden. Aber eines sollten Sie wissen, Phoebe.« Whitmore beugte sich vor, bis sein Mund dicht über ihrem Ohr schwebte, und flüsterte: »Anders als die Männer, die Sie bisher zum Essen eingeladen haben und Sie anschließend vielleicht zu Ihrer Wohnung begleiteten, weil sie sich mehr von Ihnen erhofften, lasse ich mich von Ihrer Korrektheit und Ihren guten Manieren nicht abschrecken. Ganz im Gegenteil. Ich muss mir einfach immer wieder vorstellen, was wohl passiert, wenn Ihre kühle Selbstbeherrschung dahinschmilzt.«
Phoebe schnappte nach Luft.
Marcus nahm ihre Finger. Er drückte die Lippen auf ihren Handrücken und blickte ihr dabei tief in die Augen. »Bis morgen. Und schließen Sie gut hinter mir ab. Sie wollen doch nicht in Schwierigkeiten kommen.« Dr. Whitmore trat rückwärts aus dem Raum, schenkte ihr ein letztes strahlendes Lächeln und verschwand leise pfeifend aus
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