Wo die Nacht beginnt
lebhaften Blau, das typisch für die Arbeiten des elisabethanischen Miniaturenmalers Nicholas Hilliard war. Das zweite Porträt stellte einen Mann mit einem streng aus der Stirn gekämmten schwarzen Schopf dar. Mit seinem kraftvollen Kinn- und Schnauzbart wirkte er jünger, als es die schwarzen Augen andeuteten, und unter dem am Kragen offenen Hemd war Haut zu sehen, die noch heller leuchtete als das Leinen darüber. Lange Finger hielten ein Schmuckstück, das an einer festen Kette hing. Hinter dem Mann brannten und loderten goldene Flammen, ein Symbol der Leidenschaft.
Ein leiser Atemzug kitzelte sie am Ohr. »Heiliger Jesus.« Whitmore sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Sie sind wunderschön, nicht wahr? Das müssen die beiden Miniaturen sein, die eben erst eingetroffen sind. Zwei alte Leutchen in Shropshire haben sie zufällig in ihrer Schmucktruhe gefunden. Sylvia ist sicher, dass sie einen guten Preis erzielen werden.«
»Daran besteht nicht der geringste Zweifel.« Marcus drückte eine Taste auf seinem Handy.
» Oui?« , fragte eine herrische Stimme am anderen Ende der Leitung. Das war das Problem bei Handys, dachte Phoebe. Immer brüllten die Leute hinein, und so konnte jeder fremde Privatgespräche belauschen.
»Du hattest recht mit den Miniaturen, Grand-mère .«
Aus dem Handy ertönte ein selbstzufriedenes Brummen. »Habe ich jetzt deine volle Aufmerksamkeit, Marcus?«
»Nein. Niemand sollte meine volle Aufmerksamkeit bekommen.« Whitmore warf Phoebe einen verstohlenen Blick zu und lächelte. Der Mann war charmant, musste Phoebe widerwillig zugeben. »Aber lass mir ein paar Tage Zeit, bevor du mich wieder losschickst. Wie viel willst du dafür zahlen, oder sollte ich das nicht fragen?«
» N’importe quel prix.«
Der Preis tut nichts zur Sache. Solche Sätze machten Auktionshäuser glücklich. Phoebe starrte auf die Miniaturen. Sie waren wirklich außergewöhnlich.
Whitmore und seine Großmutter beendeten ihr Gespräch, und sofort flogen die Finger des Mannes über die Tastatur, um eine SMS zu schreiben.
»Hilliard war der Meinung, dass seine Porträtminiaturen am besten in aller Stille betrachtet werden sollten«, sinnierte Phoebe laut. »Er hatte das Gefühl, dass durch seine Malerei viele Geheimnisse der Porträtierten ans Licht kamen. Hier sieht man ganz deutlich, warum. Diese beiden sehen aus, als hüteten sie alle möglichen Geheimnisse.«
»Damit haben Sie recht«, murmelte Marcus. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass Phoebe Gelegenheit hatte, seine Augen genauer zu betrachten. Sie waren blauer, als sie im ersten Moment gesehen hatte, blauer sogar als die Azurit- und Ultramarinpigmente, die Hilliard verwendet hatte.
Das Telefon auf ihrem Tisch läutete. Als Phoebe die Hand danach ausstreckte, glaubte sie zu sehen, wie sich seine Hand für einen winzigen Sekundenbruchteil auf ihre Hüfte zubewegte.
»Geben Sie dem Mann die Miniaturen, Phoebe.« Das war Sylvias Stimme.
»Ich verstehe nicht«, erwiderte sie wie betäubt. »Ich bin nicht berechtigt …«
»Er hat sie gerade eben erworben. Wir sind verpflichtet, den höchstmöglichen Preis für diese Stücke zu erzielen. Das haben wir getan. Die Taverners werden den Herbst ihres Lebens in Monte Carlo verbringen können, wenn sie das möchten. Und Sie können Marcus sagen, dass ich seine Familienloge während der gesamten nächsten Saison genießen werde, falls ich jetzt den Danse de fête verpasst habe.« Damit legte Sylvia auf.
Im Raum wurde es still. Marcus Whitmores Finger ruhten sacht auf dem Goldrahmen, mit dem die Miniatur des Mannes eingefasst war. Die Geste wirkte fast sehnsüchtig, so als wollte er jemanden erreichen, der schon lange tot war und den er unmöglich kennen konnte.
»Ich glaube fast, dass er mich hören könnte, wenn ich jetzt spräche«, sagte Marcus versonnen.
Etwas stimmte nicht. Phoebe wusste nicht, was es war, aber hier ging es um mehr als nur um den Erwerb zweier Miniaturen aus dem 16. Jahrhundert.
»Ihre Großmutter muss ein sehr gesundes finanzielles Polster haben, Dr. Whitman, wenn sie eine solche Summe für zwei elisabethanische Porträts zahlt, die nicht einmal eindeutig zugeordnet werden können. Nachdem Sie auch Kunde von Sotheby’s sind, sollte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie mit Sicherheit zu viel dafür bezahlt haben. Ein Porträt der Königin Elisabeth aus jener Periode könnte, die richtigen Käufer im Raum vorausgesetzt, eventuell eine sechsstellige Summe erzielen, aber diese
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