Wo die Nacht beginnt
Kind.
»Jeffrey!«, rief Susanna wieder aus. »Du weißt genau, dass du Goody Alsop nicht mit Fragen löchern darfst.«
»Wenn Kinder keine Fragen mehr stellen dürfen, sehen wir einer dunklen Zukunft entgegen, Susanna«, bemerkte Goody Alsop.
»Das Blut eines Wearh kann heilen, aber nicht schaden«, erklärte ich dem Jungen, bevor Goody Alsop ihm antworten konnte. Es brauchte nicht noch ein Hexenkind in Angst vor etwas aufwachsen, das es nicht verstand. Mein Blick fiel auf Matthew, dessen Anspruch auf mich viel weiter reichte als der Bluteid seines Vaters. Matthew duldete es, dass Goody Alsop mich untersuchte – wenigstens vorläufig –, aber er ließ die Frau keine Sekunde aus den Augen. Ich bekam ein Lächeln hin, und sofort entspannte sich sein Mund ein bisschen.
»Ach so.« Jeffrey schien diese Neuigkeit nicht weiter zu interessieren. »Könnt Ihr den Glaem noch einmal machen, Mistress Roydon?« Zu ihrem tiefen Bedauern hatten beide Jungen diese Manifestation magischer Energie verpasst.
Goody Alsop legte einen knorrigen Finger auf die Vertiefung über Jeffreys Lippe und brachte ihn damit zum Schweigen. »Ich muss mich jetzt mit Annie unterhalten. Master Roydons Diener wird mit euch zum Fluss gehen. Und wenn ihr zurück seid, könnt ihr mich alles fragen, was ihr wollt.«
Matthew nickte zur Tür hin, und Pierre sammelte seine zwei jungen Schutzbefohlenen ein, um mit ihnen, nach einem argwöhnischen Blick auf die alte Frau, nach unten zu gehen und dort zu warten. Genau wie Jeffrey musste Pierre erst noch lernen, seine Angst vor anderen Kreaturen zu überwinden.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte Goody Alsop und drehte den Kopf.
Annie wagte sich vor. »Hier, Goody.«
»Sag uns die Wahrheit, Annie«, befahl Goody Alsop fest. »Was hast du Andrew Hubbard versprochen?«
»Ni-nichts«, stammelte Annie und sah verstohlen auf mich.
»Lüg nicht, Annie. Das ist eine Sünde«, schalt Goody Alsop. »Raus mit der Sprache.«
»Ich soll ihm Bescheid sagen, wenn Master Roydon vorhat, London wieder zu verlassen. Und in der Frühe, wenn die Mistress und der Master noch im Bett liegen, schickt Vater Hubbard einen seiner Männer vorbei, dem ich erzählen muss, was im Haus alles passiert«, sprudelte es aus Annie heraus. Als sie damit fertig war, schlug sie die Hände vor den Mund, als könnte sie nicht glauben, wie viel sie ausgeplaudert hatte.
»Dem Wort nach müssen wir der Vereinbarung von Annie mit Vater Hubbard treu bleiben, allerdings nicht ihrem Geiste.« Goody Alsop überlegte kurz. »Falls Mistress Roydon aus irgendeinem Grund die Stadt verlässt, wird Annie zuerst mir Bescheid geben. Du wartest eine Stunde, bevor du es Hubbard meldest, Annie. Und falls du irgendwem ein Wort von dem erzählst, was sich hier zugetragen hat, dann werde ich deine Zunge mit einem Zauber binden, den nicht einmal dreizehn Hexen brechen können.« Annie erschrak zu Recht angesichts dieser Drohung. »Geh zu den Jungen, aber öffne alle Türen und Fenster, bevor du das Haus verlässt. Ich werde dich holen lassen, wenn du wieder herkommen sollst.«
Annie war anzusehen, wie ungern sie ging und wie viel Angst sie hatte, darum nickte ich ihr aufmunternd zu, während sie Fensterläden und Türen öffnete. Das arme Kind war Hubbard schutzlos ausgeliefert und hatte sich seinen Wünschen fügen müssen, um zu überleben. Nach einem letzten verängstigten Blick auf Matthew, der sie mit eisiger Miene beobachtete, verschwand sie.
Als das Haus schließlich zur Ruhe kam und ein leichter Luftzug um meine Knöchel und Schultern wehte, begann Matthew zu sprechen. Er lehnte immer noch an der Tür und schien mit seinen schwarzen Kleidern das wenige Licht im Zimmer zu verschlucken.
»Könnt Ihr uns helfen, Goody Alsop?« Nichts an seinem höflichen Tonfall erinnerte an die herablassende Verachtung, mit der er Witwe Beaton begegnet war.
»Ich glaube schon, Master Roydon«, antwortete Goody Alsop.
»Bitte macht es Euch bequem«, sagte Susanna und ließ Matthew auf einem Hocker Platz nehmen. Es war unwahrscheinlich, dass es sich ein Mann von Matthews Größe auf einem winzigen Dreibeinhocker bequem machen konnte, doch er ließ sich ohne Beschwerde darauf nieder. »Mein Mann schläft nebenan. Er darf weder den Wearh noch unser Gespräch hören.«
Goody Alsop zupfte an der grauen Wolle und dem perlweißen Leinen, die ihren Hals bedeckten, und nahm dann die Finger wieder weg, wobei sie etwas ohne jede Substanz aus dem Stoff zog. Die Hexe streckte die
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