Wo die Nacht beginnt
Sie bitte Platz nehmen würden, Dr. Whitmore.« Sie deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
Whitmore sah kurz auf den Stuhl und dann wieder auf sie. »Muss ich? Es dauert bestimmt nicht lange. Ich will mich nur kurz vergewissern, dass meine Großmutter keine Zebras sieht, wo nur Pferde laufen.«
»Verzeihung?« Phoebe zog sich langsam hinter ihren Schreibtisch zurück. Unter der Schreibtischplatte, direkt neben der Schublade, war ein Alarmknopf angebracht. Falls sich der Mann weiterhin so unmöglich aufführte, würde sie ihn drücken.
»Die Schatulle.« Whitmore sah sie unverwandt an. In seinem Blick funkelte so etwas wie Interesse auf. Phoebe verschränkte abwehrend die Arme. Ohne hinzusehen, deutete er auf das mit Samt ausgeschlagene Kästchen auf ihrem Schreibtisch. »Ich nehme an, es ist die da.«
»Bitte nehmen Sie Platz, Dr. Whitmore. Wir haben längst geschlossen, ich bin müde, und wir müssen ein paar Papiere ausfüllen, bevor ich Sie das, was Sylvia für Sie zurückgelegt hat, untersuchen lassen kann.« Phoebe massierte sich den Nacken. Er war verspannt, weil sie immer zu ihm aufsehen musste. Whitmores Nasenflügel bebten, und seine Lider senkten sich ein wenig. Phoebe fiel auf, dass seine Wimpern nicht nur dunkler waren als seine blonden Haare, sondern auch länger und dichter als ihre. Jede Frau hätte für solche Wimpern getötet.
»Ich glaube wirklich, Sie sollten mir einfach die Schatulle übergeben und mich wieder gehen lassen, Miss Taylor.« Die schroffe Stimme nahm einen leicht bedrohlichen Unterton an, obwohl Phoebe nicht in den Kopf wollte, womit er ihr drohte. Dass er die Schatulle einfach klauen würde? Noch einmal spielte sie mit dem Gedanken, den Alarm auszulösen, überlegte es sich aber anders. Sylvia wäre außer sich.
Stattdessen trat Phoebe an ihren Schreibtisch, griff nach einem Formular und einem Stift und streckte dem Besucher beides hin. »Na schön. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir es auch im Stehen tun, Dr. Whitmore, auch wenn das längst nicht so angenehm ist.«
»Das ist das schönste Angebot, das man mir seit Langem gemacht hat.« Whitmores Mundwinkel zuckten. »Aber wenn wir uns an Mr Hoyle halten wollen, dann sollten Sie mich unbedingt Marcus nennen.«
»Hoyle?« Phoebe errötete und straffte sich. Whitmore nahm sie offenbar nicht ernst. »Ich glaube nicht, dass der hier arbeitet.«
»Hoffentlich nicht.« Er kritzelte eine Unterschrift auf das Papier. »Edmond Hoyle ist 1769 gestorben.«
»Ich bin neu bei Sotheby’s. Sie müssen verzeihen, dass ich die Anspielung nicht verstanden habe.« Phoebe schniefte. Sie war wieder zu weit von dem versteckten Alarmknopf entfernt, um ihn drücken zu können. Whitmore war vielleicht kein Dieb, aber allmählich bekam sie den Eindruck, dass er verrückt war.
»Hier ist Ihr Kugelschreiber«, sagte Marcus höflich. »Und Ihr Formular. Sehen Sie?« Er beugte sich vor. »Ich habe genau das getan, worum Sie mich gebeten haben. Ich bin wirklich sehr gut erzogen. Darauf hat mein Vater größten Wert gelegt.«
Phoebe nahm ihm Kugelschreiber und Papier ab. Dabei berührten ihre Finger Whitmores Handrücken. Seine Haut war so kalt, dass sie fröstelte. An seinem Ringfinger prangte ein schwerer Siegelring. Er sah fast mittelalterlich aus, aber kein Mensch würde mit einem so seltenen und wertvollen Ring an der Hand durch London spazieren. Bestimmt war es eine Kopie – allerdings eine sehr gute.
Sie ging zum Schreibtisch und inspizierte dabei das Formular. Es schien alles in Ordnung zu sein, und falls dieser Mann doch ein Krimineller war – was sie wirklich nicht überrascht hätte –, dann konnte man ihr zumindest nicht vorwerfen, gegen die Vorschriften verstoßen zu haben. Phoebe hob den Deckel von der Schatulle und wollte sie dem eigenartigen Dr. Whitmore zur Prüfung überreichen. Sie hoffte, dass sie danach endlich nach Hause gehen konnte.
»Oh.« Sie stutzte überrascht. Sie hatte ein schweres Diamanthalsband oder ein viktorianisches Smaragdpaar in filigraner Goldfassung erwartet – so wie es ihrer eigenen Großmutter gefallen hätte.
Stattdessen enthielt die Schatulle zwei ovale Miniaturen, die in perfekt ausgeschnittene Vertiefungen eingepasst waren, um sie vor Beschädigungen zu schützen. Die eine zeigte eine Frau mit langem, rötlichblondem Haar. Ihre hellen Augen blickten den Betrachter ruhig und selbstsicher an, und ihr Mund war zu einem liebevollen Lächeln verzogen. Der Hintergrund leuchtete in jenem
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