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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um nicht die Faust zu schließen. Genau wie Goody Alsop prophezeit hatte, konnte ich dem Drang kaum widerstehen, trotzdem ließ ich sie über meine Haut gleiten wie die Seidenbänder in den Geschichten, die meine Mutter mir als Kind erzählt hatte.
    Bislang war alles genauso abgelaufen, wie Goody Alsop es mir erklärt hatte. Aber niemand konnte vorhersehen, was geschehen würde, wenn meine Kräfte Gestalt annahmen, und so wappneten sich die Hexen am Rand des Kreises schon für die Begegnung mit dem Unbekannten. Goody Alsop hatte mich gewarnt, dass nicht alle Weberinnen in ihrem Leitzauber einen Vertrauten erschufen und ich darum nicht damit rechnen sollte, dass einer erscheinen würde. Aber in den letzten Monaten hatte mich das Leben gelehrt, dass in meiner Nähe immer mit dem Unerwarteten zu rechnen war.
    Das Brausen wurde lauter, und die Luft geriet in Bewegung. Direkt über meinem Kopf schwebte ein kreiselnder Ball aus Energie. Er zog Kraft aus dem Raum und sackte gleichzeitig immer wieder in sich zusammen wie ein schwarzes Loch. Mein Hexenauge schloss sich unwillkürlich gegen den schwindelerregenden, turbulenten Anblick.
    Inmitten des Sturms pulsierte etwas. Schließlich löste es sich und formte sich zu einem Schatten. Im selben Moment verstummte Goody Alsop. Sie warf mir einen letzten eindringlichen Blick zu, bevor sie mich allein in der Mitte des Kreises zurückließ.
    Ich hörte Flügelschlagen, das Peitschen eines gespaltenen Schweifs. Heißer, feuchter Atem leckte über meine Wange. Eine durchsichtige Kreatur mit dem Reptilienkopf eines Drachen hing in der Luft und schlug mit den bunten Flügeln gegen die Dachsparren, woraufhin die dort versammelten Geister erschrocken flohen. Das Wesen hatte nur zwei Füße, und die Klauen an seinen Füßen wirkten genauso todbringend wie die Stacheln auf seinem langen Schwanz.
    »Wie viele Beine hat es?«, rief Marjorie, die von ihrem Platz aus die Gestalt schlecht sehen konnte. »Ist es nur ein Drache?«
    Nur ein Drache?
    »Es ist eine Feuerdrachin«, antwortete Catherine ehrfürchtig. Sie hob die Arme, um sofort einen Bannzauber sprechen zu können, sollte die Feuerdrachin zuschlagen wollen. Elizabeths Jacksons Arme erhoben sich ebenfalls.
    »Wartet!«, rief Goody Alsop und unterbrach damit den Zauber. »Diana hat noch nicht fertig gewebt. Vielleicht findet sie eine Möglichkeit, sie zu bändigen.«
    Sie zu bändigen? Ich sah Goody Alsop ungläubig an. Ich wusste nicht einmal, ob die Kreatur Substanz hatte oder nur ein Geistwesen war. Sie erschien mir real, andererseits konnte ich durch sie hindurchsehen.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ich drohte in Panik zu geraten. Bei jedem Flügelschlag regnete ein Schauer von Funken und Flammentropfen zu Boden.
    »Manche Zauber beginnen mit einem Gedanken, andere mit einer Frage. Es gibt viele Wege, sich auszudenken, was als Nächstes geschieht: indem man einen Knoten bindet, ein Seil flicht oder eine Kette schmiedet wie die, die Ihr zwischen Euch und Eurem Wearh gezogen habt«, erklärte Goody Alsop mir ruhig und eindringlich. »Die Kraft muss sich durch Euch hindurchbewegen.«
    Die Feuerdrachin brüllte ungeduldig und zielte mit den Klauen auf mich. Was wollte sie von mir? Mich in die Luft heben und aus dem Haus tragen? Sich irgendwo niederlassen, um ihre Schwingen auszuruhen?
    Der Boden unter mir begann zu knarren.
    »Zur Seite!«, rief Marjorie nur.
    Ich bewegte mich gerade noch rechtzeitig. Einen Augenblick später spross dort, wo eben noch meine Füße gestanden hatten, ein Baum. Der Stamm erhob sich, teilte sich in zwei Hauptäste und verzweigte sich immer weiter. An den Spitzen öffneten sich die Triebe zu grünen Blättern, denen erst weiße Blüten und dann rote Beeren folgten. Innerhalb weniger Sekunden stand ich unter einem ausgewachsenen Baum, der gleichzeitig blühte und reife Früchte trug.
    Die Füße der Feuerdrachin krallten sich in die obersten Äste des Baumes. Einen Augenblick schien sie Ruhe zu finden. Dann quietschte und krachte ein Ast. Die Feuerdrachin erhob sich wieder in die Luft, ein knorriges Aststück in den Klauen. Aus ihrem Rachen schoss eine Feuerzunge, und im nächsten Moment stand der Baum in Flammen. Es gab eindeutig zu viel Brennbares im Raum – Holzböden und Möbel, Stoffe, mit denen die Hexen bekleidet waren. Mein einziger Gedanke war, dass ich das Feuer eindämmen musste. Ich brauchte Wasser – viel Wasser.
    In meiner rechten Hand spürte

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