Wo die Nacht beginnt
heute passiert ist, finde ich, Ihr solltet den morgigen Tag mit Catherine und Elizabeth verbringen.«
»Ich danke Euch«, murmelte ich erleichtert, weil sie meine Geheimnisse bewahrt hatte.
»Wartet.« Catherine trat an den Ast des Vogelbeerbaums und knipste einen Zweig ab. »Nehmt den mit. Ihr solltet stets ein Stück davon als Talisman bei Euch tragen.« Damit drückte sie mir den Zweig in die Hand.
Auf der Straße warteten nicht nur Pierre, sondern auch Gallowglass und Hancock auf uns. Sie schoben mich auf ein Boot, das am Fuß des Garlic Hill festgemacht war. Nachdem wir an der Water Lane angelegt hatten, schickte Matthew die anderen fort, und wir blieben allein in der wohltuenden Stille unserer Schlafkammer zurück.
»Ich muss nicht unbedingt wissen, was passiert ist«, verkündete Matthew knapp und schloss die Tür. »Aber ich muss wissen, ob dir wirklich nichts zugestoßen ist.«
»Mir geht es wirklich gut.« Ich drehte ihm den Rücken zu, damit er die Bänder meines Mieders lösen konnte.
»Du hast Angst. Das kann ich riechen.« Matthew drehte mich herum.
»Ich habe Angst vor dem, was ich über mich selbst herausfinden könnte.« Ich sah ihm offen in die Augen.
»Du wirst deine eigene Wahrheit schon noch finden.« Er klang so sicher, so zuversichtlich. Aber er wusste auch nichts von dem Drachen und dem Baum und davon, was beides für eine Weberin bedeutete. Und Matthew wusste weder, dass mein Leben der Göttin gehörte, noch dass ich es ihr in einem Tauschhandel überlassen hatte, um ihn zu retten.
»Was ist, wenn ich dadurch eine andere werde – eine, die du nicht magst?«
»Unmöglich«, versicherte er mir und zog mich an seine Brust.
»Selbst wenn wir herausfinden, dass in meinem Blut die Macht über Leben und Tod fließt?«
Matthew löste sich von mir.
»In Madison habe ich dich nicht mit einem Taschenspielertrick gerettet, Matthew. Und ich habe tatsächlich Leben in Marys Schuhe gehaucht – so wie ich das Leben aus der Eiche in Sarahs Garten und aus den Quitten hier gesogen habe.«
»Leben und Tod sind eine große Verantwortung.« Matthews graugrüne Augen verdüsterten sich. »Aber ich werde dich nichtsdestotrotz lieben. Du vergisst, dass auch ich die Macht über Leben und Tod habe. Was hast du mir in jener Nacht erzählt, in der ich in Oxford jagen war? Du sagtest, es gäbe nichts, was uns unterscheidet. Gelegentlich esse ich ein Rebhuhn. Gelegentlich erlegst du einen Hirsch. Wir sind uns ähnlicher, du und ich, als wir uns je erträumt hätten«, fuhr Matthew fort. »Aber wenn du, obwohl du von meinen vergangenen Taten weißt, an das Gute in mir glaubst, musst du mir erlauben, das Gleiche von dir zu glauben.«
Plötzlich wollte ich all meine Geheimnisse mit ihm teilen. »Da war eine Feuerdrachin …, und ein Baum …«
»Aber wirklich wichtig ist einzig und allein, dass du sicher zu Hause angekommen bist«, sagte er und brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen.
Für ein paar glückselige Momente hielt Matthew mich so still und fest, dass ich ihm – beinahe – glaubte.
Am nächsten Tag ging ich zu Goody Alsop, um mich bei ihr wie versprochen mit Elizabeth Jackson und Catherine Streeter zu treffen. Annie begleitete mich, wurde aber zu Susanna geschickt, wo sie warten sollte, bis meine Lehrstunde zu Ende war.
Der Ebereschenast lehnte in einer Ecke. Ansonsten wirkte der Raum völlig harmlos und keineswegs so, als würden Hexen hier magische Kreise ziehen und Drachen heraufbeschwören. Insgeheim hatte ich mehr sichtbare Hinweise darauf erwartet, dass hier gleich gezaubert werden sollte – vielleicht einen Kessel oder bunte Kerzen, mit denen die verschiedenen Elemente dargestellt werden sollten.
Goody Alsop deutete zum Tisch, um den vier Stühle aufgestellt waren. »Kommt, Diana, setzt Euch. Wir sollten am Anfang beginnen. Erzählt uns von Eurer Familie. Vieles enthüllt sich über die Abstammungslinie einer Hexe.«
»Aber ich dachte, Ihr wolltet mir beibringen, wie ich mit Feuer und Wasser Sprüche weben kann.«
»Was ist Blut, wenn nicht Feuer und Wasser?«, fragte Elizabeth.
Drei Stunden später war ich heiser und erschöpft von der Schilderung uralter Kindheitserinnerungen – das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, Peter Knox’ Besuch in unserem Haus, der Tod meiner Eltern. Aber das genügte den drei Hexen nicht. Auch meine Schul- und Studienzeit musste ich noch einmal von Anfang bis Ende durchleben: Ich erzählte ihnen von den Dämonen, die mich verfolgten, von den
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