Wo die Nacht beginnt
Personifizierungen der Künste und Wissenschaften. Ich meinte die Handschrift jenes Genies zu erkennen, das auch Marys Schuhe bestickt hatte. Trotzdem vermied ich es, mit den Fingern über die Stickereien zu streichen, um mich zu vergewissern, denn ich wollte keinesfalls, dass Lady Alchemie von meinem Unterrock hüpfte, bevor ich ihn überhaupt tragen konnte.
Vier Frauen brauchten zwei Stunden, um mich anzukleiden. Erst wurde ich in meine Kleider geschnürt, die anschließend mit dicken Wattierungen und einem breiten Reifrock, der genauso unpraktisch war, wie ich es mir vorgestellt hatte, zu lächerlichen Dimensionen ausgestopft und aufgepolstert wurden. Meine Halskrause war angemessen breit und kunstvoll, aber, wie Mary mir versicherte, nicht annähernd so groß wie jene der Königin. Zum Schluss heftete Mary noch einen Straußenwedel an meine Taille. Er hing wie ein Pendel nach unten und schaukelte bei jedem Schritt. Mit den bunten Federn und dem mit Perlen und Rubinen besetzten Griff war dieses Accessoire bestimmt zehnmal so teuer wie meine Mausefalle, und ich war nur froh, dass es mir im Wortsinn an die Hüfte gepinnt worden war.
Beim Schmuck gingen unsere Meinungen auseinander. Mary hatte ihre Schatulle mitgebracht und zog ein unschätzbar wertvolles Stück nach dem anderen hervor. Trotzdem bestand ich darauf, Ysabeaus Ohrringe zu tragen statt der kunstvollen Diamanttropfen, die Mary vorschlug. Sie passten überraschend gut zu der Perlenkette, die Joan über meine Schultern legte. Entsetzt sah ich zu, wie Mary ein Glied aus der Kette von Ginsterblüten löste, die Philippe mir zur Hochzeit geschenkt hatte, und es mitten auf mein Mieder heftete. Die Perlen sammelte sie in einer roten Schleife und verband sie mit dieser improvisierten Blütenbrosche. Nach langer Diskussion einigten sich Mary und Françoise darauf, mein Dekolleté mit einem schlichten Perlenhalsband zu füllen. Annie befestigte mit einer juwelenbesetzten Fibel den Goldpfeil an meiner Halskrause, und Françoise frisierte meine Haare, bis sie mein Gesicht in aufgeplusterter Herzform umrahmten. Als letzten Schliff brachte Mary an meinem Hinterkopf einen perlenbesetzten Kamm an, um die geflochtenen Zöpfe zu bedecken, die Françoise dort versammelt hatte.
Matthew, dessen Laune zusehends sank, je näher die Stunde des Verderbens rückte, brachte ein Lächeln zustande und wirkte angemessen beeindruckt.
»Ich komme mir vor, als müsste ich gleich auf eine Bühne treten«, gestand ich.
»Du siehst bezaubernd aus – und umwerfend«, versicherte er mir. Er war ebenfalls prächtig anzusehen in seinem festen schwarzen Samtanzug mit den winzigen weißen Akzenten an Handgelenken und Kragen. Und er trug das Medaillon mit meinem Bildnis um den Hals. Die lange Kette war so durch ein Knopfloch geschlungen, dass der Mond nach außen zeigte und mein Bild direkt über seinem Herzen ruhte.
Als Erstes sah ich vom Palast in Richmond einen cremefarbenen Steinturm, über dem die königliche Standarte im Wind flatterte. Kurz darauf erschienen weitere Türme am Horizont, die in der klaren Winterluft funkelten wie die Silhouette eines Märchenschlosses. Danach schob sich der weitläufige Palastbau in mein Blickfeld: der eigenwillige rechtwinklige Säulengang im Südosten, der dreistöckige, von einem breiten Burggraben umgebene Hauptbau im Südwesten und der ummauerte Obstgarten dahinter. Hinter dem Hauptbau erhoben sich weitere Türme und Dächer und dazu zwei Gebäude, die mich an Eton College erinnerten. Ein riesiger Kran ragte jenseits des Obstgartens auf, und Heere von Arbeitern entluden Kisten und Kästen für die Küchen und Vorratsräume des Palastes. Plötzlich erschien mir Baynard’s Castle, das mir bis dahin immer so prachtvoll vorgekommen war, ein wenig abgenutzt für eine ehemalige Königsresidenz.
Die Ruderer dirigierten unsere Barke an einen Steg. Matthew ignorierte alle neugierigen Blicke und Fragen und ließ Pierre oder Gallowglass antworten. Auf einen zufälligen Beobachter musste Matthew fast gelangweilt wirken. Aber ich war ihm nahe genug, um zu erkennen, dass er aufmerksam und wachsam das Ufer absuchte.
Ich blickte über den Burggraben auf den zweistöckigen Säulengang. Die Bögen im Erdgeschoss waren offen, die oberen waren mit Bleiglasfenstern verschlossen. Durch das Glas schielten gespannte Gesichter, die Klatsch und einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen hofften. Matthew schob sofort seinen starken Körper zwischen die Barke und
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