Wo die Nacht beginnt
Wachs klebte an den Knicken. Das Siegel war in der Mitte aufgebrochen. »Man hat uns an den Hof bestellt.«
Ich sank in den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. »Wann?«
»Ihre Majestät hat uns gnädigerweise gestattet, bis morgen zu warten.« Matthew schnaubte. »Ihr Vater war da weniger nachsichtig. Wenn Henry jemanden sehen wollte, dann ließ er ihn abholen, selbst wenn derjenige im Bett lag und draußen ein Sturm wütete.«
Ich hatte es kaum erwarten können, die englische Königin kennenzulernen – als ich noch in Madison gewesen war. Seit ich jedoch dem gerissensten Mann des ganzen Königreichs begegnet war, hatte sich meine Lust, der raffiniertesten Frau Europas gegenüberzutreten, in Luft aufgelöst. »Müssen wir hin?«, fragte ich und hoffte halb, Matthew würde den königlichen Befehl missachten.
»In ihrem Brief hat mich die Königin penibel an ihren Erlass gegen Beschwörungen, Zauberei und Hexenwerk erinnert.« Matthew warf das Papier auf den Tisch zurück. »Es sieht so aus, als hätte Mr Danforth seinem Bischof geschrieben. Burghley wollte die Beschwerde stillschweigend untergehen lassen, aber sie trieb wieder an die Oberfläche.« Matthew fluchte.
»Und warum gehen wir an den Hof?« Ich umklammerte mein Zauberkästchen. Die Fäden rutschten darin umher und wollten mir helfen, die Antwort auf meine Frage zu finden.
»Weil uns die Königin verhaften lässt, wenn wir nicht morgen Nachmittag um zwei in ihrem Audienzsaal im Richmond Palace erscheinen.« Matthews Augen waren matt wie vom Meer geschliffenes Glas. »Und dann wird die Kongregation bald von uns erfahren.«
Die Neuigkeit brachte das ganze Haus in Aufruhr. Und die Spannung übertrug sich auf die gesamte Nachbarschaft, als am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang die Countess of Pembroke erschien, mit so vielen Kleidern beladen, dass man damit das ganze Viertel hätte ausstaffieren können. Sie kam mit dem Boot, obwohl es von ihrem Palast aus nur gute hundert Meter in die Water Lane waren. Ihr Auftritt geriet zu einem öffentlichen Spektakel, und für ein paar Minuten verharrte die sonst so lärmende Straße in ehrfürchtiger Stille.
Als Mary schließlich in den Salon trat, gefolgt von Joan und einer ganzen Reihe niederer Dienstboten, wirkte sie heiter und völlig ungerührt.
»Henry sagt, man erwartet Euch heute Nachmittag bei Hofe. Ihr habt nichts Passendes anzuziehen.« Mit einem herrischen Fingerzeig dirigierte Mary ihr Gefolge in unser Schlafgemach.
»Ich wollte das Kleid anziehen, in dem ich geheiratet habe«, protestierte ich.
»Aber das ist französisch!«, erwiderte Mary fassungslos. »Das könnt Ihr auf keinen Fall anziehen!«
Bestickter Satin, weicher Samt, funkelnde Seide, durchschossen mit Fäden aus echtem Gold und Silber, dazu Stapel von transparenten Stoffen für mir unerfindliche Zwecke wurden unter meiner Nase vorbeigetragen.
»Das ist zu viel des Guten, Mary«, sagte ich und wich im letzten Moment einer weiteren Zofe aus.
»Niemand sollte ungerüstet in die Schlacht ziehen«, erklärte Mary in der für sie typischen Mischung aus Unbekümmertheit und Schärfe. »Und Ihre Majestät, möge Gott sie schützen, ist eine treffliche Gegnerin. Ihr werdet allen Schutz brauchen, den meine Garderobe bieten kann.«
Gemeinsam gingen wir die verschiedenen Möglichkeiten durch. Wie wir die notwendigen Änderungen vornehmen sollten, damit mir Marys Kleider passten, war mir ein Rätsel, aber inzwischen hatte mich die Erfahrung gelehrt, das nicht zu fragen. Ich war Aschenputtel, und wenn es die Countess of Pembroke für nötig halten sollte, würde sie eben die Vögel des Waldes und die Feen in den Wiesen zu Hilfe rufen.
Schließlich einigten wir uns auf ein schwarzes Kleid, das dicht mit silbernen Lilien und Rosen bestickt war. Es war ein Entwurf aus dem letzten Jahr, erklärte mir Mary, weshalb ihm die wagenradgroßen Röcke fehlten, die inzwischen in Mode waren. Elizabeth würde es wohlwollend aufnehmen, dass ich nicht jeder modischen Laune folgte.
»Außerdem sind Silber und Schwarz die Farben der Königin. Darum trägt Walter sie immer«, erklärte Mary und strich die Puffärmel glatt.
Aber mein liebstes Kleidungsstück war der weiße Satinunterrock, der unter meinem vorn geteilten Überrock sichtbar sein würde. Er war ebenfalls bestickt, hauptsächlich mit Pflanzen und Tieren, durchsetzt von Motiven aus der klassischen Architektur, außerdem Abbildungen wissenschaftlicher Instrumente und weiblichen
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