Wo die Nacht beginnt
unerwünschte Antworten zur Folge haben. Eure Kenntnisse reichen bei Weitem nicht aus, um Euren Plan erfolgreich zu Ende zu führen.«
»Ich werde in Prag weiterlernen, das verspreche ich.« Ich nahm ihre Hände. »Matthew hat mit der Königin einen Handel abgeschlossen, der Dutzende Hexen retten könnte. Wir dürfen uns nicht trennen. Das ist zu gefährlich. Ich lasse ihn keinesfalls allein an den Kaiserhof reisen.«
»Nein«, stimmte sie mir mit einem melancholischen Lächeln zu. »Nicht solange Euer Herz noch einen Schlag tut. Nun gut. Geht mit Eurem Wearh. Aber seid Euch gewiss, Diana Roydon: Ihr schlagt einen ganz neuen Kurs ein. Und ich kann nicht absehen, wohin er führt.«
»Der Geist Bridget Bishops hat mir erklärt: Es führt kein Weg nach vorn, ohne dass er dich dort erwartet . Immer wenn ich das Gefühl habe, dass sich unser Leben im Ungewissen verliert, tröste ich mich mit diesen Worten«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Solange Matthew und ich nur zusammen sind, ist es gleich, in welche Richtung wir gehen, Goody Alsop.«
Drei Tage später, am St.-Brigids-Tag, setzten wir Segel und machten uns auf eine lange Reise, um den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu besuchen, dabei einen abtrünnigen englischen Dämon aufzuspüren und, endlich, einen Blick auf Ashmole 782 zu werfen.
26
V erin de Clermont saß in ihrer Berliner Wohnung und starrte ungläubig auf den vor ihr liegenden Independent .
1. Februar 2010
In Surrey wurde ein bisher unbekanntes Manuskript der berühmten elisabethanischen Dichterin Mary Sidney entdeckt.
»Es lag im Wäscheschrank meiner Mutter oben an der Treppe«, erklärte Henrietta Barber, 62, dem Independent . Mrs Barber war darauf gestoßen, als sie die Wohnung ihrer Mutter vor deren Umzug ins Pflegeheim ausräumte. »Für mich sah das aus wie ein zerfledderter Haufen Altpapier.«
Das Manuskript, glauben die Historiker, stammt aus einem alchemistischen Notizbuch, das die Countess of Pembroke und Gemahlin von Sir Philip Sidney im Winter 1590/91 führte. Bisher hatte man angenommen, dass sämtliche wissenschaftliche Schriften der Gräfin im siebzehnten Jahrhundert bei einem Brand in Wilton House zerstört wurden. Es ist noch unklar, wie das Manuskript in den Besitz der Familie Barber gelangte.
»Wir kennen Mary Sidney hauptsächlich als Dichterin«, kommentierte ein Vertreter des Auktionshauses Sotheby’s, wo man das Objekt im Mai versteigern will, »doch zu ihrer Zeit war sie auch als große Alchemistin geschätzt.«
Das Manuskript ist von besonderem Interesse, da es belegt, dass die Gräfin in ihrem Labor Hilfe hatte. Bei einem Experiment, notiert als »Erschaffung des Arbor Dianae «, bezeichnet sie den Gehilfen mit den Initialen dr . »Wir werden vielleicht nie erfahren, wie der Mann hieß, der der Countess of Pembroke half«, erläuterte der Historiker Nigel Warminster von der Universität Cambridge, »trotzdem verrät uns dieses Manuskript viel über die wachsende Experimentierfreude während der wissenschaftlichen Revolution.«
»Was ist denn, Schatz?« Ernst Neumann stellte ein Glas Wein vor seiner Frau ab. Sie wirkte viel zu ernst für einen Montagabend. Das war Verins Freitagsgesicht.
»Nichts«, murmelte sie, den Blick immer noch auf die gedruckten Zeilen geheftet. »Eine unerledigte Familienangelegenheit.«
»Hat es was mit Baldwin zu tun? Hat er wieder mal eine Million verloren?« Ernst hatte sich nur widerwillig an seinen Schwager gewöhnt und traute ihm nicht. Baldwin hatte Ernst in jungen Jahren in die Feinheiten des internationalen Wertpapierhandels eingeführt. Inzwischen war Ernst fast sechzig und wurde von all seinen Freunden um seine junge Frau beneidet. Die Hochzeitsfotos, auf denen eine fünfundzwanzigjährige Version seiner selbst neben einer Verin stand, die genauso aussah wie heute, lagen gut versteckt im Schrank.
»Baldwin hat in seinem ganzen Leben noch keine Million verloren.« Ernst war nicht entgangen, dass Verin seine Frage nicht beantwortet hatte.
Er zog die englische Zeitung zu sich her und las den Artikel. »Warum interessierst du dich für ein altes Buch?«
»Lass mich erst telefonieren«, erwiderte sie ausweichend. Ihre Hände bedienten das Telefon ganz ruhig, doch Ernst kannte das Glitzern in ihren ungewöhnlichen silbernen Augen. Sie war wütend und gleichzeitig verängstigt, und sie dachte an früher. Er hatte diesen Ausdruck schon einmal in ihren Augen gesehen, kurz bevor Verin ihn von ihrer Stiefmutter weggerissen und
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