Wo die Nacht beginnt
ihm damit das Leben gerettet hatte.
»Rufst du Mélisande an?«
»Ysabeau«, antwortete Verin automatisch und tippte auf die entsprechenden Tasten.
»Ysabeau, ja«, sagte Ernst. Verständlicherweise nannte er Verins Stiefmutter in Gedanken immer bei jenem Namen, den die Matriarchin der de Clermonts verwendet hatte, als sie nach dem Krieg Ernsts Vater getötet hatte.
Es dauerte ungewöhnlich lange, bis die Verbindung stand. Ernst hörte mehrmals ein merkwürdiges Klicken aus dem Apparat, so als würde der Anruf immer wieder weitergeschaltet. Schließlich war er durchgestellt. Er hörte das Tuten.
»Wer ist da?«, fragte eine junge Stimme, die nach einem Amerikaner klang oder einem Engländer, dessen Akzent sich abgeschliffen hatte.
Verin legte augenblicklich auf. Sie legte das Telefon auf den Tisch zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »O Gott. Es passiert tatsächlich, genau wie es mein Vater vorhergesagt hat.«
»Du machst mir Angst, Schatz«, sagte Ernst. Er hatte in seinem Leben schon viel Grauenhaftes gesehen, aber nichts davon war so schrecklich wie das Grauen, das Verin heimsuchte, wenn sie, was selten genug vorkam, schlief. Die Albträume, die um Philippe kreisten, warfen seine sonst so gefasste Gemahlin jedes Mal völlig aus der Bahn. »Wer war da am Telefon?«
»Nicht der, mit dem ich reden wollte«, antwortete Verin durch ihre Finger. Die grauen Augen sahen ihn an. »Matthew hätte rangehen sollen, aber er kann nicht. Weil er nicht da ist. Er ist dort.« Sie sah auf die Zeitung.
»Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst, Verin«, tadelte Ernst sie. Er hatte diesen angeblich so anstrengenden Stiefbruder, den Intellektuellen in der Familie und ihr schwarzes Schaf zugleich, nie kennengelernt.
Aber sie wählte schon wieder. Diesmal nahm sofort jemand ab.
»Du hast die Zeitung gelesen, Tantchen. Ich warte schon seit Stunden auf deinen Anruf.«
»Wo steckst du gerade, Gallowglass?« Ihr Neffe war ein Rumtreiber. Früher hatte er Postkarten mit nichts als einer Telefonnummer geschickt, unter der er auf dem Straßenabschnitt, den er gerade bereiste, zu erreichen war: auf einer Autobahn in Deutschland, der Route 66 in den usa , der Trollstigen in Norwegen oder der Guoliang Tunnel Road in China. Seit es Handys gab, hatte sie diese knappen Meldungen kaum noch erhalten. Dank GPS und Internet konnte sie Gallowglass überall ausfindig machen. Verin vermisste die Postkarten trotzdem.
»In der Nähe von Warrnambool«, antwortete Gallowglass ausweichend.
»Wo zum Teufel liegt Warrnambool?«, wollte Verin wissen.
»In Australien«, antworteten Ernst und Gallowglass gleichzeitig.
»Höre ich da einen deutschen Akzent? Hast du einen neuen Freund?«, zog Gallowglass sie auf.
»Nimm dich in Acht, Kleiner«, fuhr Verin ihn an. »Du gehörst vielleicht zur Familie, aber ich kann dir trotzdem die Kehle rausreißen. Das ist mein Mann Ernst.«
Ernst beugte sich in seinem Stuhl vor und schüttelte warnend den Kopf. Er konnte es nicht leiden, wenn sich seine Frau mit einem männlichen Vampir anlegte – auch wenn sie stärker als die meisten von ihnen war. Verin winkte lässig ab.
Gallowglass lachte, und Ernst beschloss, dass von diesem fremden Vampir vielleicht doch keine Gefahr ausging. »So kenne ich meine schreckliche Tante. Schön, nach all den Jahren deine Stimme zu hören. Und tu nicht so, als hätte dich der Artikel mehr überrascht als mich dein Anruf.«
»Insgeheim hatte ich gehofft, er wäre immer noch auf seinem Rachefeldzug«, gestand Verin und dachte dabei an die Nacht, als sie und Gallowglass an Philippes Bett gesessen und seinem wirren Gebrabbel gelauscht hatten.
»Hast du etwa geglaubt, das ist ansteckend, und ich bin auch auf einem Rachefeldzug unterwegs?«, schnaubte Gallowglass. In letzter Zeit klang er immer öfter wie Philippe, fiel Verin auf.
»Ehrlich gesagt hatte ich das wirklich gehofft.« Das war leichter zu glauben als die Alternative: dass die unmögliche Geschichte von einer zeitwandernden Hexe, die ihr Vater erzählt hatte, stimmte.
»Wirst du dein Versprechen trotzdem halten?«, fragte Gallowglass nachsichtig.
Verin zögerte. Nur ganz kurz, trotzdem fiel es Ernst auf. Verin löste ihre Versprechen grundsätzlich ein. Als er noch ein verängstigter, eingeschüchterter Junge gewesen war, hatte Verin ihm versprochen, dass er zu einem richtigen Mann heranwachsen würde. Damals mit sechs Jahren hatte Ernst sich an dieses Versprechen geklammert, genauso wie er sich an jedes
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