Wo die Nacht beginnt
Versprechen klammerte, das Verin seither gegeben hatte.
»Du hättest Matthew mit ihr zusammen sehen sollen. Danach würdest du …«
»… glauben, dass mein Stiefbruder ein noch größeres Problem darstellt? Unmöglich.«
»Gib ihr eine Chance, Verin. Auch sie ist Philippes Tochter. Und er hatte einen ausgezeichneten Geschmack, was Frauen angeht.«
»Die Hexe ist keine leibliche Tochter«, erwiderte Verin sofort.
Auf einer Straße in der Nähe von Warrnambool presste Gallowglass die Lippen zusammen und verkniff sich eine Antwort. Verin wusste vielleicht mehr über Diana und Matthew als jeder andere in der Familie, aber sie wusste längst nicht so viel wie er. Sie würden noch reichlich Gelegenheit haben, über Vampire und Kinder zu diskutieren, wenn das Paar erst zurück war. Es gab keinen Grund, jetzt darüber zu streiten.
»Außerdem ist Matthew nicht hier«, sagte Verin und sah wieder auf die Zeitung. »Ich habe bei ihm angerufen. Jemand anderes ging ans Telefon, und es war nicht Baldwin.« Darum hatte sie so schnell aufgelegt. Falls Matthew die Bruderschaft nicht führte, hätte die Telefonnummer an Philippes einzigen überlebenden Sohn weitergereicht werden müssen. Die Nummer hatten sie sich schon in den Anfangstagen des Telefons gesichert. Philippe hatte sie ausgewählt: die 917 für Ysabeaus Geburtstag im September. Bei jeder technischen Neuerung und jeder daraus folgenden Veränderung des nationalen und internationalen Telefonnetzes war die Nummer nahtlos übernommen worden.
»Du hast mit Marcus gesprochen.« Gallowglass hatte die Nummer ebenfalls angerufen.
»Marcus?« Verin war fassungslos. »Die Zukunft der de Clermonts liegt in Marcus’ Händen?«
»Gib ihm eine Chance, Tante Verin. Er ist ein anständiger Bursche.« Gallowglass atmete durch. »Und die Zukunft der Familie liegt in unser aller Händen. Philippe wusste das, sonst hätte er uns nicht das Versprechen abgenommen, nach Sept-Tours zurückzukehren.«
Philippe de Clermont hatte seine Tochter und seinen Enkel ausführlich unterwiesen. Sie sollten auf bestimmte Anzeichen achten: Geschichten über eine junge amerikanische Hexe mit großen Kräften, auf den Namen Bishop, Alchemie und danach eine rasche Folge anomaler historischer Entdeckungen.
Dann und nur dann sollten Gallowglass und Verin zum Familiensitz der de Clermonts zurückkehren. Philippe hatte ihnen um keinen Preis verraten wollen, warum die Familie unbedingt zusammenkommen sollte, aber Gallowglass kannte den Grund.
Jahrzehntelang hatte Gallowglass gewartet. Dann hatte er Geschichten über eine Hexe namens Rebecca aus Massachusetts gehört, eine der letzten Nachfahrinnen der Bridget Bishop aus Salem. Die Kunde von ihren Kräften verbreitete sich schnell, genauso wie die Nachricht von ihrem tragischen Ende. Gallowglass hatte ihre überlebende Tochter im Staat New York aufgespürt. Periodisch hatte er sich über das Mädchen kundig gemacht und beobachtet, wie Diana Bishop am Klettergerüst auf dem Spielplatz turnte, wie sie zu Geburtstagsfeiern ging und das College besuchte. Als sie ihr mündliches Examen in Oxford bestand, war er so stolz gewesen, als wäre sie seine leibliche Tochter. Und oft hatte er unter dem Glockenspiel im Harkness Tower in Yale gestanden und die Glockenklänge in seinem ganzen Körper vibrieren gespürt, während die junge Professorin über den Campus gewandelt war. Inzwischen zog sie sich anders an, doch Dianas entschlossener Schritt und ihre durchgestreckten Schultern waren unverkennbar, ganz gleich, ob sie Talar und Barett trug oder in einer schlichten Hose und einem wenig schmeichelhaften Männerjackett vorbeiging.
Gallowglass versuchte, den nötigen Abstand zu wahren, trotzdem musste er hin und wieder eingreifen – so wie an jenem Tag, als sie mit ihrer Energie einen Dämon angelockt hatte, der ihr von da an stur folgte. Trotzdem war Gallowglass stolz darauf, dass er es viele hundert Male geschafft hatte, nicht die Treppe im Glockenturm von Yale hinunterzustürmen, um Professor Bishop in die Arme zu schließen und ihr zu eröffnen, wie sehr er sich freute, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen.
Als Gallowglass erfahren hatte, dass Baldwin von Ysabeau wegen eines nicht näher benannten Notfalls, der angeblich etwas mit Matthew zu tun hatte, nach Sept-Tours beordert worden war, war dem Gälen klar gewesen, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis die ersten historischen Anomalien auftauchten. Gallowglass hatte die Artikel über die
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