Wo die Nacht beginnt
stieg er den Hügel zur Burg hoch, in einer schlichten schwarzen Strumpfhose und mit einem langen, gewundenen Schreiben (teilweise in Gedichtform) in der Hand, in dem er Rudolf ein prachtvolles Buch für seine Sammlung anbot. Vier Stunden später kehrte er mit leeren Händen zurück, nachdem er die Nachricht einem kaiserlichen Lakaien übergeben hatte. Der Kaiser hatte ihn nicht empfangen. Stattdessen hatte er Matthew unter den anderen Gesandten warten lassen, die um eine Audienz nachsuchten.
»Zwischen all den warmen Leibern hätte man glauben können, auf einem Viehwagen eingepfercht zu sein. Ich wollte woandershin, um etwas frische Luft zu schnappen, aber in sämtlichen Räumen ringsum waren Hexen.«
»Hexen?« Ich sprang von dem Tisch, auf den ich geklettert war, um Matthews Schwert oben auf dem Wäscheschrank zu verstauen, bevor Jack die Wohnung unsicher machen konnte.
»Dutzende«, bestätigte Matthew. »Sie beklagten sich über das, was sich derzeit in Deutschland abspielt. Wo steckt Gallowglass?«
»Dein Neffe kauft Eier ein und besorgt uns eine Haushälterin und einen Koch.« Françoise hatte sich schlicht geweigert, uns auf unserer Expedition nach Mitteleuropa zu begleiten, das sie als gottlose Gegend voller Lutheraner bezeichnet hatte. Sie war inzwischen wieder in der Old Lodge und verhätschelte Charles. Bis der Rest unserer Reisegruppe eintraf, diente Gallowglass mir als Page und als Faktotum. Er sprach flüssig Deutsch und Spanisch, womit er uns unverzichtbare Dienste bei der Versorgung unseres Haushalts leistete. »Erzähl mir mehr über die Hexen.«
»Die Stadt ist ein sicherer Hafen für alle nichtmenschlichen Kreaturen in Mitteleuropa, die um ihr Leben fürchten – Dämonen, Vampire und Hexen. Aber die Hexen sind an Rudolfs Hof besonders gern gesehen, weil er es auf ihr Wissen abgesehen hat. Und ihre Macht.«
»Interessant«, sagte ich. Kaum hatte ich mich zu fragen begonnen, wer diese Hexen wohl sein mochten, da tauchte vor meinem inneren Auge schon eine Reihe von Gesichtern auf. »Wer ist der Hexenmeister mit dem roten Bart? Und wer ist die Hexe mit einem blauen und einem grünen Auge?«
»Wir werden nicht so lange hier sein, dass es uns interessieren müsste, wer sie sind«, erklärte Matthew unheilverheißend auf dem Weg zur Tür. Nachdem er seine heutigen Geschäfte für Elisabeth erledigt hatte, würde er im Auftrag der Kongregation jenseits des Flusses in der Prager Altstadt tätig werden. »Vor Einbruch der Dunkelheit bin ich wieder da. Du bleibst hier, bis Gallowglass zurückkommt. Ich möchte nicht, dass du verlorengehst.« Vor allem wollte er nicht, dass ich irgendwelchen Hexen über den Weg lief.
Gallowglass kam mit zwei Vampiren und einer Brezel heim in die Sporengasse. Die Brezel überreichte er mir, dann stellte er mir meine neuen Hausangestellten vor.
Karolína (die Köchin) und Tereza (die Haushälterin) entstammten einer weitläufigen Sippe böhmischer Vampire, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dem Adel und wichtigen ausländischen Besuchern zu dienen. Wie die Bediensteten der de Clermonts verdienten sie sich ihren Ruf – und ihr stolzes Gehalt – mit ihrer natürlichen Langlebigkeit und ihrer wölfischen Treue. Für eine angemessene Summe hatten wir uns auch das Stillschweigen der Sippe und des Sippenältesten erkauft, der die Frauen aus dem Haushalt des päpstlichen Gesandten abgezogen hatte. Der Gesandte hatte sich aus Ehrerbietung den de Clermonts gegenüber mit dem Wechsel einverstanden erklärt. Schließlich hatten die de Clermonts entscheidend dazu beigetragen, die letzte Papstwahl zu fälschen, und der Gesandte wusste genau, wem er die Butter auf seinem Brot verdankte. Mich hingegen interessierte nur, ob Karolína Omeletts backen konnte.
Nachdem wir uns halbwegs eingerichtet hatten, erklomm Matthew allmorgendlich den Burgberg, während ich Kisten auspackte, meine Nachbarn in dem Kleinseite genannten Viertel unter den Burgmauern kennenlernte und auf die noch nicht eingetroffenen Mitglieder unseres Haushalts wartete. Mir fehlten Annies Fröhlichkeit und ihr Staunen, und mir fehlte Jacks unfehlbares Talent, sofort in Schwierigkeiten zu geraten. Da in diesem Viertel die meisten Gesandten wohnten, lebten in unserer gewundenen Straße Kinder jeden Alters und aller Nationalitäten. Wie sich herausstellte, war Matthew nicht der einzige Ausländer in Prag, der nicht in die Nähe des Kaisers gelassen wurde. Jeder, den ich traf, beglückte Gallowglass mit Anekdoten,
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