Wo die Nacht beginnt
gewogen oder nicht?
Schließlich kamen seine Finger zur Ruhe, und er zog die eine Rune heraus, die ihm verraten würde, wie ihre Sache stand. Nyd , die Rune für Mangel und Begierde. Gallowglass tauchte die Hand ein zweites Mal in den Beutel, um genauer zu erfahren, was die Zukunft für ihn bereithielt. Odal , die Glyphe für Heim, Familie und Erbe. Dann zog er die letzte Rune, jene, die ihm zeigen würde, wie er sich den nagenden Wunsch dazuzugehören erfüllen konnte.
Rad. Es war eine verwirrende Rune, die gleichzeitig für Ankunft und Abschied stand, für Beginn und Ende einer Reise, für eine erstmalige Begegnung und ein lang ersehntes Wiedersehen. Gallowglass’ Hand schloss sich um das Holz. Diesmal war die Bedeutung klar.
»Dir auch eine gute Reise, Tantchen. Und bring meinen Onkel mit«, sagte Gallowglass dem Meer und dem Himmel, bevor er wieder auf sein Motorrad stieg und in eine Zukunft aufbrach, die er sich nicht vorstellen und die er nicht länger hinauszögern konnte.
Vierter Teil
Prag
27
W o sind meine roten Beinlinge?« Matthew kam nach unten gestapft und fixierte finster die überall im Erdgeschoss herumstehenden Kisten. Seine Laune hatte sich deutlich verschlechtert, seit wir uns in Hamburg, auf halbem Weg der vierwöchigen Reise, von Pierre, den Kindern und unserem Gepäck verabschiedet hatten. Zehn weitere Tage hatten wir dadurch verloren, dass wir von England aus in ein katholisches Land gereist waren, das die Zeit nach einem anderen Kalender berechnete. In Prag war es bereits der elfte März, und die Kinder und Pierre waren immer noch nicht eingetroffen.
»In diesem Chaos werde ich sie nie finden!«, schimpfte Matthew und ließ seinen Ärger an einem meiner Unterröcke aus.
Nachdem wir wochenlang aus Satteltaschen und einem einzigen Koffer gelebt hatten, war, drei Tage nach unserer Ankunft, auch unser Gepäck in dem schmalen, hohen Haus oben an der steilen, zur Prager Burg hinaufführenden Sporengasse eingetroffen. Wahrscheinlich hatten unsere deutschen Nachbarn die Gasse so getauft, weil man ein Pferd kaum anders überzeugen konnte, den steilen Anstieg anzugehen.
»Ich wusste gar nicht, dass du rote Beinlinge besitzt«, sagte ich und richtete mich auf.
»Tue ich aber.« Matthew begann in einer Kiste zu wühlen, die meine Unterwäsche enthielt.
»Also, darin sind sie ganz bestimmt nicht.« Das lag wohl auf der Hand.
Der Vampir knirschte mit den Zähnen. »Sonst habe ich überall gesucht.«
»Ich suche sie für dich.« Ich sah auf seine perfekt sitzenden schwarzen Beinlinge. »Warum die roten?«
»Weil ich die Aufmerksamkeit des Kaisers erregen will!« Matthew tauchte in den nächsten Koffer, in dem meine Kleider lagen.
Blutrote Strümpfe wären definitiv ein Blickfang, vor allem nachdem der Mann, der sie tragen wollte, ein Vampir von einem Meter neunzig mit ellenlangen Beinen war. Matthew war jedoch nicht gewillt, auch nur einen Fußbreit von seinem Plan abzuweichen. Ich richtete meine Konzentration auf die Strümpfe, bat sie, sich zu zeigen, und folgte dann den roten Strängen. Die Fähigkeit, Menschen und Dinge aufzuspüren, war ein ungeahnter und willkommener Nebeneffekt, den ich als Weberin genoss und den ich auf unserer Reise schon mehrfach ausgenutzt hatte.
»Ist der Bote meines Vaters schon eingetroffen?« Matthew warf einen weiteren Unterrock auf den wachsenden Wäscheberg zwischen uns und wühlte von Neuem.
»Ja. Das Paket liegt drüben bei der Tür.« Ich kramte in den Tiefen einer von ihm übersehenen Truhe: Kettenhandschuhe, ein Schild mit Doppeladler und ein kunstvoll ziseliertes Ding, das aussah wie ein Luftballonstab. Triumphierend hielt ich die langen roten Strümpfe in die Höhe. »Hab sie!«
Matthew hatte die Strumpfkrise bereits vergessen. Jetzt gab es für ihn nur noch das Päckchen seines Vaters. Ich beugte mich vor, um zu sehen, was ihn so fesselte.
»Ist das … ein Bosch?« Ich kannte Hieronymus Boschs Arbeiten wegen seiner bizarren Verwendung von alchemistischen Instrumenten und Symbolen. Auf seinen Leinwänden tummelten sich fliegende Fische, Insekten, riesige Haushaltsgeräte und erotisiertes Obst. Lange bevor psychedelische Kunst in Mode kam, hatte Bosch die Welt in den grellsten Farben und in äußerst irritierenden Bildern gesehen.
Wie Matthews Holbein-Gemälde in der Old Lodge war dieses Werk jedoch völlig unbekannt. Es handelte sich um ein Triptychon in drei Holzrahmen, die durch Scharniere verbunden waren. Triptychen gehörten eigentlich auf
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