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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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einen Altar und wurden meist nur zu hohen kirchlichen Festen geöffnet. In modernen Museen sah man die Außenfront nur selten. Ich fragte mich, wie viele faszinierende Bilder ich wohl nie zu sehen bekommen hatte.
    Der Künstler hatte die Außenflächen mit schwarzer, samtener Farbe überzogen. Über die beiden Seitenflügel spannte ein vertrockneter, im Mondschein stehender Baum seine Äste. Zu seinen Wurzeln kauerte ein winziger Wolf, und in der Krone hockte eine Eule. Beide Tiere blickten den Betrachter wissend an. Aus dem dunklen Untergrund rund um den Baum leuchteten Dutzende von Augenpaaren, körperlos und starr. Hinter der toten Eiche erhellte ein Grüppchen täuschend normal aussehender Bäume mit bleichen Stämmen das Bild. Erst als ich sie genauer betrachtete, entdeckte ich die Ohren, die ihnen gewachsen waren, als lauschten sie den Geräuschen der Nacht.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich staunend.
    Matthews Finger nestelten an den Schlingen an seinem Wams. »Es soll ein altes flämisches Sprichwort darstellen: Der Wald hat Augen und das Holz Ohren; darum werde ich sehen, schweigen und lauschen.« Die Worte passten perfekt auf das verschwiegene Leben, das Matthew führte, und erinnerten mich gleichzeitig an Elisabeths gegenwärtiges Motto.
    Im Inneren des Triptychons waren drei miteinander verbundene Szenen zu sehen. Auf dem einen Flügel sah man die gefallenen Engel, die vor dem gleichen samtigen schwarzen Hintergrund schwebten. Auf den ersten Blick wirkten sie mit ihren schillernden Doppelflügeln fast wie Libellen, doch sie hatten menschliche Körper, und ihre Köpfe und Beine wanden sich unter Qualen, während sie aus dem Himmel herabtaumelten. Auf dem Bild gegenüber stiegen in einer Szene, die weitaus grausiger wirkte als das Fresko in Sept-Tours, die Toten aus ihren Gräbern. Die klaffenden Mäuler von Fischen und Wölfen dienten als Höllentore, die alle Verdammten einsogen und sie einer Ewigkeit in Pein und Agonie auslieferten.
    Auf der Mitteltafel hingegen war ein ganz anderes Bild des Todes zu sehen: der wiederauferstandene Lazarus, der aus seinem Sarg steigt. Mit seinen langen Beinen, den dunklen Haaren und der ernsten Miene sah er fast wie Matthew aus. Der Rand der Mitteltafel war mit merkwürdigen Früchten und Blüten bemalt, die an leblosen Ranken hingen. Aus einigen tropfte Blut. Aus anderen schlüpften Menschen oder Tiere. Und nirgendwo war ein Jesus zu sehen.
    »Lazarus sieht aus wie du. Kein Wunder, dass du das Rudolf nicht zeigen willst.« Ich reichte Matthew die Beinlinge. »Bosch muss gewusst haben, dass du ein Vampir bist.«
    »Jeroen – oder Hieronymus, wie du ihn nennst – sah etwas, das er nicht hätte sehen dürfen«, antwortete Matthew düster. »Dass Jeroen beobachtet hatte, wie ich Blut trank, begriff ich erst, als ich die Skizzen sah, die er von mir und einer Warmblüterin angefertigt hatte. Von jenem Tag an war er überzeugt, dass alle Wesen eine gespaltene Natur haben, dass sie zum Teil Mensch und zum Teil Tier sind.«
    »Und manchmal zum Teil Obst«, ergänzte ich, den Blick auf eine nackte Frau gerichtet, die eine Erdbeere als Kopf und Kirschen als Hände hatte und vor einem mistgabelschwingenden Teufel floh, der wiederum einen Storch als Hut trug. Matthew schnaubte erheitert. »Weiß Rudolf auch, dass du ein Vampir bist, so wie Elisabeth es weiß und Bosch es wusste?« Allmählich machte es mir Sorgen, wie viele Menschen in sein Geheimnis eingeweiht waren.
    »Ja. Der Kaiser weiß auch, dass ich ein Mitglied der Kongregation bin.« Er verknotete die knallroten Strümpfe. »Danke, dass du die gefunden hast.«
    »Sag mir lieber gleich, ob du ständig die Autoschlüssel verlegst, denn ich habe keine Lust, dass du jeden Morgen so in Panik gerätst, bevor du zur Arbeit fährst.« Ich schlang die Arme um seine Taille und ließ meine Wange auf seine Brust sinken. Der langsame, stetige Schlag seines Herzens hatte mich noch jedes Mal beruhigt.
    »Was willst du denn tun, dich scheiden lassen?« Matthew erwiderte die Umarmung und legte sein Kinn auf meinen Scheitel, sodass wir uns perfekt aneinanderschmiegten.
    »Du hast mir versprochen, dass sich Vampire nicht scheiden lassen.« Ich drückte ihn. »Wenn du in dieser roten Strumpfhose auftauchst, wirst du aussehen wie aus einem Zeichentrickfilm. An deiner Stelle würde ich bei den schwarzen Strümpfen bleiben. Du wirst auch so auffallen.«
    »Hexe«, sagte Matthew und gab mich mit einem Kuss wieder frei.
    Wenig später

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