Wo die Nacht beginnt
Onkelchen«, sagte Gallowglass fröhlich und zwinkerte mir zu.
Verglichen mit unserem Besuch in Richmond war der Weg hinauf zur Burg fast so, als würde man sich beim Nachbarn eine Tasse Zucker leihen – obwohl wir uns dafür deutlich eleganter anziehen mussten. Die Frau des päpstlichen Gesandten hatte ungefähr meine Größe, und in ihrer Garderobe fand sich ein angemessen luxuriöses Gewand für die Frau eines englischen Würdenträgers – oder eines de Clermont, wie sie hastig ergänzte. Es gefiel mir, wie sich die wohlhabenden Pragerinnen kleideten: in schlichte Gewänder mit hohem Kragen, Glockenrock und bestickte Mäntel mit Glockenärmeln und Pelzbesatz. Die kleinen Halskrausen, die hier getragen wurden, schirmten die Kälte angenehm ab.
Matthew trug graue Beinlinge und eine schwarze Strumpfhose. Ein tiefes Grün, das ich sehr an ihm mochte, blitzte aus den Schlitzen seiner zwiebelförmigen Kniebundhose und leuchtete am Saum rund um den offenen Kragen seiner Jacke.
»Du siehst phantastisch aus«, erklärte ich ihm nach ausgiebiger Inspektion.
»Und du siehst aus wie eine richtige böhmische Aristokratin«, erwiderte er und küsste mich auf die Wange.
»Können wir endlich los?« Jack hüpfte vor Ungeduld von einem Bein aufs andere. Jemand hatte ihm eine schwarz-silberne Livree angezogen und ein Kreuz mit Sichelmond auf den Ärmel genäht.
»Wir gehen also als de Clermonts, nicht als Roydons«, stellte ich fest.
»Nein. Wir sind Matthew und Diana Roydon«, korrigierte Matthew. »Wir reisen nur mit dem Dienstpersonal der de Clermonts.«
»Daraus wird doch kein Mensch schlau«, kommentierte ich, als wir aus dem Haus traten.
»Exakt«, bestätigte Matthew lächelnd.
Wären wir als gewöhnliche Bürger zum Hof gegangen, hätten wir die neue Palasttreppe erklommen, die sich an die Burgmauern schmiegte und Fußgängern einen sicheren Weg bot. Stattdessen ritten wir auf zwei Pferden die Sporengasse hinauf, wie es einem Vertreter der englischen Königin geziemte, und ich hatte dadurch Gelegenheit, die Häuser mit den abgeschrägten Fundamenten, den bunten Wandmalereien und liebevoll gemalten Schildern zu bewundern. Wir passierten den Roten Löwen, den Goldenen Stern, den Schwan und die Zwei Sonnen. Auf der Kuppe des Hügels bogen wir scharf ab in ein anderes Viertel, Hradschin genannt, in dem sich die Stadthäuser der Aristokraten und Höflinge drängten.
Ich sah die Burg nicht zum ersten Mal, denn bei unserer Ankunft hatte sie hoch über der Stadt gethront, und ich konnte von unseren Fenstern aus die Befestigungsanlagen sehen. Aber aus der Nähe erschien die Burg noch größer und weitläufiger als aus der Ferne, fast wie eine eigene Stadt voller Handwerker und Händler. Vor uns ragten die spitzen gotischen Kirchtürme des Veitsdomes auf, gesäumt von den runden Türmen, mit denen die Stadtmauern durchsetzt waren. Einst zum Schutz erbaut, dienten sie jetzt Hunderten von Handwerkern, die an Rudolfs Hof zu Hause waren, als Werkstätten.
Die Palastwache ließ uns durchs Westtor ein. Nachdem Pierre und Jack die Pferde weggeführt hatten, begleitete uns eine bewaffnete Eskorte zu einer Reihe von Gebäuden, die offenbar erst vor Kurzem an die Burgmauern angebaut worden waren. Sie sahen aus wie Amtsgebäude, aber dahinter entdeckte ich hohe Dächer und mittelalterliche Mauern.
»Was ist denn los?«, flüsterte ich Matthew zu. »Wieso gehen wir nicht in die Burg?«
»Weil dort niemand ist, der wichtig wäre«, antwortete Gallowglass. Er trug das Voynich -Manuskript, das sicher in Leder gehüllt und mit Riemen verschnürt war, damit sich in der feuchten Luft nicht die Seiten wellten.
»Rudolf fand die alte Burg zu dunkel und zu zugig«, erläuterte Matthew und half mir über die glitschigen Pflastersteine. »Der neue Palast ist nach Süden ausgerichtet und blickt über einen privaten Garten. Außerdem ist er weiter vom Dom entfernt – und von den Priestern.«
In den Gängen der Residenz herrschte lebhaftes Treiben, überall eilten Menschen umher, die sich auf Deutsch, Tschechisch, Spanisch oder Latein unterhielten, je nachdem, aus welchem Teil von Rudolfs Imperium sie stammten. Je näher wir dem Kaiser kamen, desto hektischer ging es zu. Wir durchquerten einen Raum, in dem eine größere Gruppe heftig über architektonischen Zeichnungen stritt. In einem anderen wurde lebhaft über den Nutzen einer kunstvollen, mit Edelstein besetzten Goldschale in Form einer riesigen Muschel debattiert. Schließlich ließen
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