Wo die Nacht beginnt
mir die Stränge gar nicht aufgefallen, die vom Kamin aus direkt die Treppe hinaufführten – in Silber, Gold und Grau. Ich hatte es so eilig, zu den Kindern zu kommen und herauszufinden, was mit meinem Kompendium los war, dass ich auf meinen Rocksaum stieg. Als ich Annie und Jack erreicht hatte, hatte mein Rock eine frische Delle am Hintern.
Annie und Jack hatten das kleine astronomische Kompendium aus Messing und Silber wie ein Buch aufgeschlagen und die inneren Flügel aufgefaltet, so weit es ging. Rudolf hatte mir etwas schenken wollen, mit dem ich die Bewegungen der Himmelskörper nachvollziehen konnte, und Habermel hatte sich selbst übertroffen. Das Kompendium enthielt eine Sonnenuhr, einen Kompass, einen Mechanismus, um die Dauer des Tageslichts in den verschiedenen Jahreszeiten zu berechnen, eine fein gearbeitete Mondphasenanzeige – deren Rädchen so eingestellt werden konnten, dass sie Datum, Zeit, Sternzeichen und Mondphase anzeigte – sowie ein Astrolabium, das (auf meinen Wunsch hin) die Kolonie Roanoke sowie die Orte London, Lyon, Prag und Jerusalem einschloss. In den Flügel war ein Schlitz eingearbeitet, in den eine der angesagtesten neuen Technologien eingeschoben werden konnte: eine löschbare Tafel, bestehend aus speziell behandeltem Papier, das man beschreiben und später wieder abwischen konnte, um neue Notizen zu machen.
»Schau mal, Jack, jetzt fängt es schon wieder an«, sagte Annie, über das Instrument gebeugt. Mopp (außer Jack nannte ihn niemand im Haus mehr Lobero) fing an zu bellen und aufgeregt mit dem Schwanz zu wedeln, als sich die Mondphasenanzeige von selbst zu drehen begann.
»Ich wette um einen Penny, dass der Vollmond im Fenster ist, wenn es stehenbleibt«, sagte Jack, spuckte in seine Hand und streckte sie Annie hin.
»Gewettet wird nicht«, sagte ich automatisch und ging neben Jack in die Hocke.
»Wann hat das angefangen, Jack?«, fragte Matthew und wehrte Mopp ab.
Jack zuckte mit den Achseln.
»Eigentlich tut es das schon, seit Herr Habermel es vorbeigebracht hat«, gestand Annie.
»Dreht es sich den ganzen Tag oder nur zu bestimmten Zeiten?«, fragte ich.
»Nur einmal oder zweimal. Und der Kompass dreht sich nur einmal.« Annie sah mich betreten an. »Ich hätte Euch das sagen müssen. Ich habe von Anfang an gespürt, dass es verzaubert ist.«
»Nicht so schlimm.« Ich lächelte sie an. »Es ist ja nichts passiert.« Damit steckte ich den Finger in die Mechanik und befahl der Mondphasenanzeige stehenzubleiben. Sie gehorchte. Sobald sie aufhörte, sich zu drehen, lösten sich die silbernen und goldenen Stränge rund um das Kompendium auf, und nur der graue Strang blieb zurück. Er verlor sich schnell zwischen den unzähligen anderen farbigen Strängen, die unser Haus erfüllten.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Matthew später, als es still im Haus geworden war und ich das Kompendium den Kindern endlich entrissen hatte. Ich hatte beschlossen, es auf den gezimmerten Betthimmel zu legen. »Übrigens versteckt jeder seine Sachen auf dem Baldachin. Dort wird Jack zuallererst suchen.«
»Jemand sucht uns.« Ich holte das Kompendium wieder herunter und überlegte, wo ich es verstecken konnte.
»In Prag?« Matthew streckte die Hand nach dem kleinen astronomischen Instrument aus, nahm es mir ab und versenkte es in seinem Wams.
»Nein. In der Zeit.«
Matthew ließ sich fluchend aufs Bett fallen.
»Das ist meine Schuld.« Ich sah ihn betreten an. »Ich wollte einen Spruch weben, mit dem das Kompendium mich warnen sollte, wenn jemand es zu stehlen versucht. Mit dem Spruch wollte ich vermeiden, dass Jack in Schwierigkeiten kommt. Ich schätze, mein Entwurf war mangelhaft.«
»Wie kommst du darauf, dass uns jemand in einer anderen Zeit sucht?«, fragte Matthew.
»Weil die Mondphasenanzeige wie ein ewiger Kalender funktioniert. Die Rädchen drehten sich, als versuchten sie Informationen zu verarbeiten, die ihre technischen Möglichkeiten übersteigen. Es ist ähnlich wie bei den herumhuschenden Worten in Ashmole 782 .«
»Vielleicht deutet das Kreiseln der Kompassnadel darauf hin, dass dieser Jemand nicht nur in einer anderen Zeit, sondern auch an einem anderen Ort nach uns sucht. Genau wie die Mondphasenanzeige kann sich der Kompass nicht nach Norden ausrichten, weil er zwei verschiedene Standorte verarbeiten muss: unseren in Prag und den von jemand anderem.«
»Glaubst du, es ist Ysabeau oder Sarah, und sie brauchen unsere Hilfe?« Ysabeau hatte Matthew die
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