Wo die Nacht beginnt
du nach dem Manuskript suchtest.« In regelmäßigen Abständen erwachte es immer noch zum Leben und ließ ohne Vorwarnung die Räder rotieren. Im Haus hieß es nur noch »die Hexenuhr«.
»Vielleicht sollte ich das Buch holen gehen.« Matthew war schon aufgestanden.
»Es ist schon gut«, erwiderte mein Vater und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. »Kein Grund zur Eile. Rebecca erwartet mich erst in ein paar Tagen zurück.«
»Und so lange bleibst du hier – in London?«
Das Gesicht meines Vaters wurde milde. Er nickte.
»Wo wohnst du?«, fragte Matthew.
»Hier!«, bestimmte ich entrüstet. »Natürlich wohnt er hier.« Ich hatte so viele Jahre auf ihn verzichten müssen, da fand ich die Vorstellung, ihn auch nur ein paar Stunden aus den Augen zu lassen, unerträglich.
»Deine Tochter ist grundsätzlich dagegen, dass ihre Verwandten im Hotel absteigen«, erklärte Matthew meinem Vater mit einem ironischen Lächeln. Wahrscheinlich musste er daran denken, wie ich reagiert hatte, als er Marcus und Miriam in einer Pension in Cazenovia unterbringen wollte. »Natürlich bist du hier herzlich willkommen.«
»Ich habe ein Zimmer am anderen Ende der Stadt«, erklärte mein Vater zögerlich.
»Bleib hier.« Ich presste die Lippen zusammen und blinzelte die Tränen zurück. »Bitte.« Ich wollte ihn noch so vieles fragen, es gab so vieles, das nur er beantworten konnte. Mein Vater und mein Ehemann wechselten einen langen Blick.
»Na schön«, sagte mein Vater schließlich. »Es wäre toll, wenn ich eine Weile bei euch bleiben könnte.«
Ich versuchte, ihm unser Zimmer zu überlassen, da Matthew ohnehin nicht schlafen konnte, solange ein Fremder im Haus war, und ich leicht auf der breiten Fensterbank nächtigen konnte, aber das wollte mein Vater auf keinen Fall. Stattdessen gab Pierre sein Bett auf. Ich stand im Treppenhaus und lauschte neidisch, während Jack und mein Vater plauderten wie alte Freunde.
»Ich glaube, Stephen hat alles, was er braucht«, beruhigte mich Matthew und legte den Arm um mich.
»Ist er von mir enttäuscht?«, fragte ich mich laut.
»Dein Vater?« Matthew schien das undenkbar zu finden. »Natürlich nicht!«
»Er kommt mir ein bisschen verlegen vor.«
»Als Stephen dir vor ein paar Tagen einen Abschiedskuss gab, warst du noch ein Kleinkind. Das muss er erst einmal verarbeiten.«
»Weiß er, was ihm und Mom widerfahren wird?«, flüsterte ich.
»Ich weiß es nicht, mon cœur , aber ich glaube schon.« Matthew zog mich in unsere Schlafkammer. »Komm ins Bett. Morgen früh sieht alles anders aus.«
Matthew hatte recht: Am nächsten Tag wirkte mein Vater sichtlich entspannter, allerdings sah er nicht so aus, als hätte er lange geschlafen. Genau wie Jack.
»Hat das Kind immer so schlimme Albträume?«, fragte mein Vater.
»Es tut mir leid, wenn er dich wachgehalten hat«, entschuldigte ich mich. »Veränderungen machen ihm Angst. Normalerweise kümmert sich Matthew um ihn.«
»Ich weiß. Ich habe ihn gesehen.« Mein Vater nahm einen Schluck des Kräutertees, den Annie ihm zubereitet hatte.
Das war das Problem mit meinem Vater: Er sah alles. Seine Wachsamkeit hätte jedem Vampir Ehre gemacht. Obwohl ich Hunderte von Fragen hatte – nach meiner Mutter und ihrer Magie, nach der Seite aus Ashmole 782 –, schienen unter seinem ruhigen Blick alle zu versiegen. Gelegentlich fragte er mich etwas ganz Triviales. Ob ich Baseball spielen konnte. Ob ich Bob Dylan für ein Genie hielt. Ob jemand mir beigebracht hätte, wie man ein Zelt aufbaut. Er fragte nie nach Matthew und mir oder wo ich zur Schule gegangen war oder womit ich inzwischen mein Geld verdiente. Nachdem er seinerseits kein Interesse zeigte, erschien es mir merkwürdig, ihm alles von mir aus zu erzählen. Am Abend unseres ersten gemeinsamen Tages war mir zum Heulen zumute.
»Warum redet er nicht mit mir?«, wollte ich wissen, als Matthew mein Korsett aufschnürte.
»Weil er zu sehr mit Zuhören beschäftigt ist. Er ist Anthropologe – ein professioneller Beobachter. Du bist die Historikerin in der Familie. Fragen sind deine Stärke, nicht seine.«
»In seiner Gegenwart werde ich so unsicher, dass ich kaum ein Wort herausbringe. Und wenn er mal mit mir redet, dann nur über ganz merkwürdige Themen, zum Beispiel, ob es das Baseballspiel ruiniert hat, dass man einen festen Schlagmann erlaubt hat.«
»So redet ein Vater mit seiner Tochter, wenn er mit ihr gemeinsam ins Baseballstadion geht. Stephen weiß also sehr gut, dass er
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