Wo die Nacht beginnt
zehnten Knoten. Ich selbst kann ihn nicht knüpfen, dabei sollte es eigentlich der einfachste von allen sein.« Goody Alsop lächelte, aber ihr Kinn zitterte. »Meine Lehrerin konnte diesen Knoten auch nicht knüpfen, trotzdem gaben wir ihn von Generation zu Generation weiter, weil wir hofften, dass eines Tages eine Weberin wie Ihr kommen könnte.«
Goody Alsop schnippte mit dem knorrigen Zeigefinger und löste damit den eben geschlossenen Knoten. Ich reichte ihr wieder die rote Seide, und sie legte die Schnur zu einer schlichten Schlaufe. Für einen kurzen Moment fügte sich das Band zu einem geschlossenen Ring. Sobald sie die Finger davon löste, öffnete sich die Schlaufe wieder.
»Aber gerade eben habt Ihr die Enden auch geschlossen, und noch dazu in einem viel komplizierteren Gewebe«, sagte ich verwirrt.
»Solange sich das Band überkreuzt, kann ich die Enden verbinden und den Zauber vollenden. Aber nur eine Weberin, die zwischen den Welten steht, kann den zehnten Knoten knüpfen«, erwiderte sie. »Versucht es. Nehmt das silberne Band.«
Verwirrt legte ich die Enden des Bandes zu einem kleinen Kreis. Die Fäden verschmolzen und bildeten einen Ring ohne Anfang und Ende. Ich nahm meine Finger von der Seide, aber der Ring blieb.
»Sehr schön gewebt«, stellte Goody Alsop zufrieden fest. »Der zehnte Knoten erfasst die Macht der Ewigkeit, er verwebt Leben und Tod. Er ist so wie die Schlange Eures Gemahls oder so wie Corra, wenn sie ihren Schwanz in den Mund nimmt, damit er sie nicht stört.« Sie hielt den zehnten Knoten hoch. Es war ein weiterer Uroboros. Über den Raum hatte sich eine so unheimliche Atmosphäre gesenkt, dass sich die Härchen an meinen Armen aufstellten. »Schöpfung und Zerstörung sind die einfachste und mächtigste Form der Magie, so wie der einfachste Knoten auch jener ist, der am schwersten zu knüpfen ist.«
»Ich will meine Magie nicht einsetzen, um etwas zu zerstören«, sagte ich. Die Bishops versuchten seit jeher, niemandem zu schaden. Meine Tante Sarah war überzeugt, dass jede Hexe, die diesen fundamentalen Grundsatz missachtete, letztendlich dafür bezahlen würde.
»Niemand will die Geschenke der Göttin als Waffe einsetzen, aber manchmal bleibt uns keine andere Wahl. Euer Wearh weiß das. Und nach allem, was hier und in Schottland geschehen ist, wisst Ihr es auch.«
»Vielleicht. Aber meine Welt ist anders«, sagte ich. »Dort wird nicht so oft zu den magischen Waffen gerufen.«
»Welten ändern sich, Diana.« Goody Alsop konzentrierte sich auf eine ferne Erinnerung. »Meine Lehrerin, Mutter Ursula, war eine große Weberin. Am Abend vor Allerheiligen, als die schrecklichen Ereignisse in Schottland ihren Anfang nahmen und Ihr kamt, um unsere Welt zu ändern, musste ich an eine ihrer Prophezeiungen denken.«
Sie stimmte einen beschwörenden Sprechgesang an.
Stürme wehn und das Meer geht an Land
Steht Gabriel einst an See und Strand
Und bläst er in sein Wunderhorn
Vergehen Welten und neue werden gebor’n.
Kein Lufthauch, kein Flammenknistern durchbrach die Stille, als Goody Alsop verstummte. Sie holte tief Luft.
»Alles ist eins. Tod und Geburt. Der zehnte Knoten ohne Anfang und Ende, die Schlange des Wearh. Der Vollmond, der zu Beginn dieser Woche leuchtete, und der Schatten, den Corra als Vorahnung Eurer Abreise auf die Themse legte. Die alte Welt und die neue.« Ihr Lächeln wurde zittrig. »Ich war so froh, als Ihr zu mir kamt, Diana Roydon. Und wenn Ihr geht, weil Ihr gehen müsst, wird mir das Herz schwer werden.«
»Normalerweise benachrichtigt mich Matthew, wenn er meine Stadt verlässt.« Andrew Hubbards weiße Hand ruhte auf der geschnitzten Armlehne seines Sessels in der Kirchenkrypta. »Was führt Euch zu mir, Mistress Roydon?«
»Ich bin hier, um mit Euch über Annie und Jack zu sprechen.«
Der Blick aus Hubbards unheimlichen Augen lag fest auf mir, während ich einen kleinen Lederbeutel aus der Tasche zog. Er enthielt fünf Jahreslöhne für beide.
»Ich verlasse London. Ich möchte Euch das hier geben, damit Ihr sie in Eure Obhut nehmt.« Ich streckte Hubbard das Geld hin. Er machte keine Anstalten, es zu nehmen.
»Das ist nicht nötig, Mistress.«
»Bitte. Ich würde sie mitnehmen, wenn ich könnte. Nachdem das nicht geht, will ich sicherstellen, dass jemand über sie wacht.«
»Und was gebt Ihr mir dafür?«
»Wieso … Das Geld natürlich.« Ich streckte ihm erneut den Beutel hin.
»Ich möchte und brauche Euer Geld nicht, Mistress
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