Wo die Nacht beginnt
herauszufinden, was ihn so bekümmerte.
»Ach. Der Tag ist noch nicht zu Ende«, bemerkte Hancock unruhig und trat einen Schritt zurück. »Es gibt noch eine kleine Angelegenheit, die Eure Aufmerksamkeit erfordert. Euer Vater hält Euch für tot.«
In meiner Zeit war Matthews Vater Philippe tot – schrecklich, tragisch, unwiderruflich. Aber jetzt befanden wir uns im Jahr 1590, und das bedeutete, dass er noch lebte. Seit wir hier angekommen waren, hatte ich mich gefragt, ob wir wohl zufällig auf Ysabeau oder Matthews Laborassistentin Miriam treffen würden und was das in der Zukunft für Wellen schlagen würde. Kein einziges Mal war mir in den Sinn gekommen, dass Matthew seinen Vater wiedersehen könnte.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prallten aufeinander. Hätte ich in die Ecken geblickt, hätte ich mit Sicherheit beobachten können, wie sich die Zeit unter diesem Ansturm protestierend aufbäumte. Aber ich konnte den Blick nicht von Matthew und der blutigen Träne auf seiner Halskrause abwenden.
Gallowglass übernahm kurzerhand die Erzählung. »Nachdem wir das aus Schottland gehört hatten und du so plötzlich verschwunden warst, fürchteten wir, du könntest nach Norden gereist sein, um der Königin zu helfen, und dich in den Wahnsinn dort eingelassen haben. Zwei Tage suchten wir nach dir. Als wir keine Spur von dir finden konnten – verflucht, Matthew –, da blieb uns nichts anderes übrig, als Philippe zu schreiben, dass du verschwunden warst. Andernfalls hätten wir bei der Kongregation Alarm schlagen müssen.«
»Das ist noch nicht alles, Milord .« Pierre drehte den Brief um. Das Siegel auf der Rückseite sah aus wie die anderen, die ich mit den Lazarusrittern in Verbindung brachte – nur dass hier ein Wirbel aus schwarzem und rotem Siegelwachs verwendet und dass statt des üblichen Siegels eine Silbermünze mit dünnen, abgegriffenen Rändern in die Masse gedrückt worden war. In die Münze waren ein Kreuz und ein Halbmond eingeprägt, zwei Familiensymbole der de Clermonts.
»Was habt Ihr ihm geschrieben?« Matthew starrte wie hypnotisiert auf den bleichen silbernen Mond, der auf einem rot-schwarzen Meer trieb.
»Jetzt, wo das hier eingetroffen ist, sind unsere Worte nicht weiter von Bedeutung. Innerhalb der nächsten Woche müsst Ihr auf französischem Boden sein. Sonst wird sich Philippe auf den Weg nach England machen«, murmelte Hancock.
»Mein Vater kann nicht herkommen, Hancock. Das ist unmöglich.«
»Natürlich ist das unmöglich. Nachdem er sich so dreist in die englische Politik eingemischt hat, würde die Königin sofort seinen Kopf fordern. Ihr müsst zu ihm. Solange Ihr nur Tag und Nacht reist, bleibt Euch noch reichlich Zeit«, versicherte ihm Hancock.
»Das kann ich nicht.« Matthews Blick lag immer noch auf dem versiegelten Brief.
»Philippe hat bestimmt schon Pferde bereitstellen lassen. Im Nu wärst du wieder hier«, murmelte Gallowglass und legte die Hand auf die Schulter seines Onkels. Als Matthew aufsah, schlugen Flammen aus seinen Augen.
»Es ist nicht die Entfernung. Es …« Matthew verstummte abrupt.
»Er ist der Gemahl Eurer Mutter. Philippe könnt Ihr doch gewiss vertrauen – es sei denn, Ihr habt auch ihn belogen.« Hancock kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
»Kit hat recht. Man kann mir nicht trauen.« Matthew sprang auf. »Mein Leben ist ein einziges Lügengespinst.«
»Dies ist weder die Zeit noch der Ort für Gejammer, Matthew. Just in diesem Augenblick fragt sich Philippe, ob er einen weiteren Sohn verloren hat!«, rief Gallowglass. »Lass das Mädchen bei uns, steig auf dein Pferd, und kehre zu deinem Vater zurück. Oder muss ich dich bewusstlos schlagen, damit Hancock dich zu ihm tragen kann?«
»Du musst dir deiner Sache sehr sicher sein, Gallowglass, dass du mir Befehle erteilst«, erwiderte Matthew mit einem gefährlichen Grollen in der Stimme. Er stützte die Hände am Kaminsims ab und starrte ins Feuer.
»Ich zweifle nicht an meinem Großvater. Dich hat Ysabeau zum Wearh gemacht, aber durch die Adern meines Vaters floss Philippes Blut.« Gallowglass’ Bemerkung traf. Matthews Kopf fuhr hoch, als der Schlag landete, und ein Ansturm von Gefühlen wütete auf seinem Antlitz.
»George, Tom, Ihr geht nach oben und seht nach Kit«, murmelte Walter und deutete auf die Tür. Raleigh nickte kurz zu Pierre hin, woraufhin Matthews Diener sich ebenfalls bemühte, sie aus dem Raum zu komplimentieren. Rufe nach mehr Wein und Essen hallten durch die
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