Wo die Nacht beginnt
zu nehmen. Matthew weiß das.«
»Er lag im Sterben, und es gab kein Blut außer meinem!«, widersprach ich wütend. »Ich musste ihn zum Trinken zwingen, falls dich das beruhigt.«
»Das ist es also. Offenbar hat sich mein Sohn eingeredet, dass er dich immer noch gehen lassen kann, solange er nur dein Blut und nicht deinen Körper gekostet hat.« Philippe schüttelte den Kopf. »Er irrt sich. Ich habe ihn beobachtet. Du bist für alle Zeiten an Matthew gebunden, ob er dich nun endgültig zur Frau nimmt oder nicht.«
»Matthew weiß, dass ich ihn nie verlassen werde.«
»Natürlich wirst du das. Eines Tages wird dein Leben auf dieser Erde zu Ende gehen, und du wirst deine letzte Reise in die Unterwelt antreten. Und Matthew wird dir in den Tod folgen wollen, um nicht um dich trauern zu müssen.« In Philippes Worten lag eine unwiderlegbare Wahrheit.
Matthews Mutter hatte mir geschildert, wie er einst zum Vampir gemacht worden war: wie er vom Gerüst gefallen war, während er geholfen hatte, die Dorfkirche zu errichten. Schon als ich die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, hatte ich mich gefragt, ob Matthew nach dem Tod seiner Frau Blanca und seines Sohnes Lucas so verzweifelt gewesen war, dass er sich absichtlich in die Tiefe gestürzt hatte.
»Zu dumm, dass Matthew Christ ist. Sein Gott ist nie zufrieden.«
»Wieso das?« Der Themenwechsel hatte mich unvorbereitet erwischt.
»Wir anderen begleichen nach jedem Fehltritt unsere Rechnung bei den Göttern und wenden uns danach wieder dem Leben zu. Ysabeaus Sohn hingegen muss seine Sünden beichten und endlos dafür büßen – für sein Leben, für das, was er ist, was er getan hat. Er blickt immer nur zurück, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.«
»Weil Matthew ein Mann von tiefem Glauben ist, Philippe.«
»Matthew?«, fragte Philippe ungläubig. »Ich bin in meinem ganzen Leben keinem Zweiten begegnet, der so wenig Glauben besitzt wie er. Gottesfurcht ist bei ihm eher eine Sache des Kopfes als des Herzens. Matthew war schon immer äußerst scharfsinnig und konnte mit Abstraktionen wie Gott gut umgehen. Auf diese Weise konnte er sich damit abfinden, dass Ysabeau ihn zu einem aus unserer Familie gemacht hatte. Mit dieser Erfahrung geht jeder Manjasang anders um. Meine Söhne wählten verschiedene Wege – Krieg, Liebe, Vermählung, Eroberung, Ansammlung von Reichtümern. Matthew konzentrierte sich von Anfang an auf abstrakte Ideen.«
»Das tut er immer noch«, sagte ich leise.
»Aber Ideen sind selten so stark, dass man Mut aus ihnen schöpfen könnte. Nicht, solange man keine Hoffnung hat.« Plötzlich wirkte er nachdenklich. »Ihr kennt Euren Gemahl nicht so gut, wie Ihr solltet.«
»Nicht so gut wie Ihr, nein. Wir sind eine Hexe und ein Vampir, die sich lieben, obwohl uns das verboten ist. Der Pakt gestattet uns kein langes Werben und keine traulichen Mondscheinspaziergänge.« Ich merkte, wie ich mich zu ereifern begann. »Außerhalb dieser Mauern kann ich weder seine Hand halten noch ihm übers Gesicht streichen.«
»Matthew geht mittags, wenn Ihr glaubt, er würde nach seinem Buch suchen, ins Dorf und in die Kirche. Heute war er dort.« Philippes Bemerkung schien nichts mit unserem Gespräch zu tun zu haben. »Vielleicht folgt Ihr ihm eines Tages dorthin. Vermutlich werdet Ihr ihn dabei besser kennenlernen.«
Am Montag um elf ging ich in die Kirche, in der Hoffnung, sie leer vorzufinden. Doch Matthew war dort, genau wie Philippe prophezeit hatte.
Mit Sicherheit hatte er das Schlagen der schweren Kirchentür und das Hallen meiner Schritte auf dem Steinboden gehört, dennoch drehte er sich nicht um. Stattdessen verharrte er auf seinen Knien rechts vom Altar. Trotz der Kälte trug Matthew nur ein durchscheinendes Leinenhemd, Reithosen, Beinlinge und Schuhe. Schon bei dem Anblick begann ich zu frösteln und schlang den Umhang fester um mich.
»Dein Vater hat mir gesagt, dass ich dich hier finden würde.« Meine Stimme hallte in dem Kirchenschiff.
Ich war noch nie in dieser Kirche gewesen und sah mich neugierig um. Wie viele religiöse Bauten in diesem Teil Frankreichs war das Gotteshaus von Saint-Lucien bereits im Jahr 1590 viele Jahrhunderte alt und hatte nichts von den lichten Höhen und dem durchbrochenen Mauerwerk einer gotischen Kathedrale. Grellbunte Wandmalereien umfassten den breiten Bogen, der die Apsis vom Hauptschiff trennte, und schmückten die Steinbänder oberhalb der Arkaden unter den hohen, kleinen Fensternischen. Die meisten
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