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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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Augen leer und ihre Seele längst entwichen. Philippe hatte damals Lucas’ Namen ausgewählt. Es ist griechisch und heißt ›der Strahlende‹. In der Nacht seiner Geburt war Lucas so weiß und bleich. Als ihn die Hebamme in der Dunkelheit in die Höhe hob, fing seine Haut den Flammenschein ein, so wie der Mond das Licht der Sonne einfängt. Merkwürdig, wie klar ich mich nach all den Jahren noch an diese Nacht erinnere.« Matthew verstummte kurz und wischte sich über die Augen. Danach leuchteten seine Fingerspitzen rot.
    »Wo hast du Blanca kennengelernt?«
    »Ich bewarf sie während ihres ersten Winters im Dorf mit Schneebällen. Ich hätte alles getan, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie wirkte zerbrechlich und in sich gekehrt, und viele von uns suchten ihre Nähe. Im Frühling hatte ich es dann so weit gebracht, dass ich Blanca vom Markt nach Hause begleiten durfte. Sie liebte Beeren. Jeden Sommer war die Hecke um die Kirche voll davon.« Er starrte gedankenversunken auf die roten Striemen an seinen Händen. »Immer wenn Philippe die roten Saftflecken an meinen Fingern sah, lachte er und prophezeite mir eine Hochzeit im Herbst.«
    »Ich nehme an, er hatte recht.«
    »Wir heirateten im Oktober, nach der Ernte. Da war Blanca schon über zwei Monate schwanger.« Offenbar konnte Matthew warten, bevor er mit mir die Ehe vollzog, aber Blancas Charme hatte er nicht widerstehen können. So viel hatte ich eigentlich nie über die Beziehung der beiden erfahren wollen.
    »In der Hitze des August liebten wir uns zum ersten Mal«, fuhr er fort. »Blanca lag immer sehr viel daran, anderen zu gefallen. Im Rückblick habe ich mich oft gefragt, ob sie als Kind vielleicht missbraucht wurde. Nicht geprügelt – geprügelt wurden wir alle, und schlimmer, als es irgendwelchen Eltern heute einfallen würde –, sondern auf andere Weise. Irgendwie war ihr Geist gebrochen worden. Meine Frau hatte gelernt, immer nachzugeben, wenn jemand, der älter, stärker und rücksichtsloser war als sie, etwas von ihr verlangte. Ich war all das, und ich wollte, dass sie in jener Sommernacht ja sagte, und so gab sie sich mir hin.«
    »Ysabeau hat mir erzählt, ihr hättet euch über alles geliebt, Matthew. Du hast sie zu nichts gezwungen, was sie nicht tun wollte.« Selbst wenn mich seine Erinnerungen schmerzten, wollte ich ihm Trost spenden, so gut ich konnte.
    »Blanca besaß praktisch keinen eigenen Willen. Nicht bevor sie Lucas bekam. Ihr ganzes Leben hatte sie auf jemanden gewartet, der schwächer und kleiner war als sie und den sie beschützen konnte. Stattdessen durchlebte Blanca, so wie sie es sah, eine Folge von Fehlschlägen. Lucas war nicht ihre erste Schwangerschaft, und mit jeder Fehlgeburt wurde sie weicher und liebevoller und noch lenkbarer. Verweigerte sie sich weniger.«
    Wenn man von den Grundlinien absah, war das eine ganz andere Geschichte als jene, die Ysabeau mir über die frühen Jahre ihres Sohnes erzählt hatte. In ihrer Geschichte war es um tiefe Liebe und geteiltes Leid gegangen. In Matthews Version ging es um Elend und Verlust.
    Ich räusperte mich. »Und dann kam Lucas.«
    »Ja. Nachdem ich sie jahrelang nur mit Tod erfüllt hatte, schenkte ich ihr Lucas.« Er verstummte.
    »Du hättest nichts daran ändern können, Matthew. Das war im 6. Jahrhundert, und eine Epidemie überrollte das Land. Du hättest keinen von beiden retten können.«
    »Ich hätte aufhören können, sie zu lieben. Dann hätte sie niemanden verlieren können!«, fuhr Matthew mich an. »Sie sagte nie nein, doch in ihren Augen erkannte ich jedes Mal, wenn wir uns liebten, eine unausgesprochene Zurückhaltung. Jedes Mal versprach ich ihr, dass dieses Kind überleben würde. Ich hätte alles darum gegeben …«
    Es schmerzte zu wissen, dass Matthew so an seiner verstorbenen Familie hing. Ihre Geister schwebten immer noch über diesem Ort und über ihm. Aber immerhin konnte ich mir nun erklären, warum er mich auf Distanz hielt: Die Ursache lag in dem tiefen Schuldgefühl und der Trauer, die ihn seit Jahrhunderten bedrückten. Irgendwann würde ich es vielleicht schaffen, dass Blanca Matthew freigab. Ich stand auf und ging zu ihm. Er zuckte zusammen, als meine Finger auf seiner Schulter zu liegen kamen.
    »Das ist noch nicht alles.«
    Ich erstarrte.
    »Ich versuchte, auch meinem Leben ein Ende zu machen. Aber Gott wollte es nicht haben.« Matthew hob den Kopf. Er sah erst auf den abgewetzten Stein vor sich und dann zum Dach auf.
    »O

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