Wo die Nacht beginnt
Matthew.«
»Ich hatte wochenlang nur an Lucas und Blanca gedacht, aber ich hatte Angst, dass sie im Himmel wären und Gott mich für meine Sünden in der Hölle schmoren lassen würde«, erklärte Matthew gleichmütig. »Ich fragte eine der Frauen aus dem Dorf um Rat. Sie war der Meinung, dass ihre Geister mich verfolgten – dass Blanca und Lucas meinetwegen diesen Ort nicht verlassen konnten. Oben auf dem Gerüst sah ich nach unten und stellte mir vor, wie ihre Geister unter dem Stein gefangen saßen. Wenn ich mich darauf stürzte, hätte Gott keine Wahl, als sie freizugeben. Oder aber er würde mich zu ihnen lassen – wo auch immer sie gelandet waren.«
Aus ihm sprach die kranke Logik eines Verzweifelten, nicht der klare Verstand des Wissenschaftlers, den ich kannte.
»Ich war so unendlich müde«, erzählte er erschöpft. »Trotzdem ließ Gott mich nicht schlafen. Nicht nach dem, was ich getan hatte. Um mich für meine Sünden büßen zu lassen, überließ er mich einer Kreatur, die mich in ein Geschöpf verwandelte, das weder leben noch sterben oder auch nur für einen flüchtigen Moment Frieden in seinen Träumen finden kann. Auf diese Weise bin ich dazu verdammt, mich immer zu erinnern.«
Matthew war erschöpft und völlig ausgekühlt. Seine Haut fühlte sich kälter an als die eisige Luft um uns herum. Sarah hätte einen Spruch gewusst, um ihm Linderung zu verschaffen, aber ich konnte nichts weiter tun, als seinen widerstrebenden Leib an mich zu ziehen und ihm wenigstens einen Hauch von Wärme zu spenden.
»Seither verabscheut mich Philippe. Er hält mich für schwach – für viel zu schwach, um jemanden wie dich zu heiraten.« Endlich wusste ich, warum Matthew sich so wertlos fühlte.
»Nein«, widersprach ich rau, »dein Vater liebt dich.« Während der kurzen Zeit, die wir auf Sept-Tours verbracht hatten, hatte Philippe seinem Sohn gegenüber die verschiedensten Gefühle gezeigt, aber Abscheu hatte ich nie gespürt.
»Wenn tapfere Männer Selbstmord begehen, dann höchstens in der Schlacht. Das sagte er zu Ysabeau, als sie mich frisch verwandelt hatte. Philippe erklärte ihr, mir fehle der Mut, ein Manjasang zu sein. Bei der ersten Gelegenheit schickte mein Vater mich in den Krieg. ›Wenn du so entschlossen bist, deinem Leben ein Ende zu setzen‹, erklärte er mir, ›dann solltest du es aus einem edleren Grund als aus reinem Selbstmitleid tun.‹ Diese Worte habe ich nie vergessen.«
Hoffnung, Glaube, Tapferkeit: die drei Elemente in Philippes schlichtem Glaubensbekenntnis. Matthew hatte das Gefühl, nur aus Zweifeln, Gottesfurcht und Tollkühnheit zu bestehen. Ich wusste, dass er sich irrte.
»Du hast dich inzwischen so lange mit diesen Erinnerungen gequält, dass du die Wahrheit nicht mehr erkennen kannst.« Ich stellte mich vor ihn und sank dann auf die Knie. »Weißt du, was ich sehe, wenn ich dich ansehe? Ich sehe jemanden, der deinem Vater sehr ähnlich ist.«
»Wir alle wollen in denen, die wir lieben, Philippe sehen. Aber ich bin ganz und gar nicht wie er. Es war Gallowglass’ Vater Hugh, der, wenn er gelebt hätte …« Matthew wandte sich ab und legte eine bebende Hand auf sein Knie. Es gab da noch etwas, ein weiteres düsteres Geheimnis.
»Ich habe dir bereits ein Geheimnis zugestanden, Matthew: den Namen des de Clermont, der im 21. Jahrhundert in der Kongregation sitzt. Zwei sind eines zu viel.«
»Du willst, dass ich dir meine schwärzeste Sünde offenbare?« Es blieb eine Ewigkeit still, bis Matthew sagte: »Ich habe sein Leben beendet. Er bettelte Ysabeau an, es zu tun, aber sie konnte nicht.« Matthew wandte sich ab.
»Hugh?«, flüsterte ich und trauerte um ihn und Gallowglass.
»Philippe.«
Die letzte Schranke fiel.
»Die Nazis hatten ihn mit Schmerzen und Entbehrungen in den Wahnsinn getrieben. Hätte Hugh überlebt, hätte er Philippe womöglich überzeugen können, dass es in dem zurückbleibenden Wrack immer noch Hoffnung auf Leben gab. Aber Philippe erklärte uns, er sei zu müde, um noch zu kämpfen. Er wollte endlich schlafen, und ich … Ich wusste nur zu gut, wie es ist, wenn man bloß noch die Augen schließen und vergessen möchte. Darum tat ich, was er von mir verlangte, Gott sei mir gnädig.«
Inzwischen schlotterte Matthew am ganzen Leib. Obwohl er sich sträubte, schloss ich ihn in die Arme, denn ich wusste, dass er etwas – jemanden – brauchte, an dem er sich festhalten konnte, während die Erinnerung in dunklen Wogen über ihn
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