Wo die Nacht beginnt
Fensternischen waren einfache Löcher, die keinen Schutz gegen die Elemente boten, obwohl jemand einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, wenigstens die in der Nähe der Tür zu verglasen. Das Giebeldach wurde von dicken Holzbalken getragen, die von den Fähigkeiten des Zimmermanns wie auch des Dachdeckers zeugten.
Als ich die Old Lodge erstmals besucht hatte, hatte mich Matthews Haus an ihn selbst erinnert. Auch diese Kirche spiegelte seine Persönlichkeit, vor allem in den geometrischen Schnitzereien der Dachbalken und den perfekt gerundeten Bögen, die sich zwischen den Säulen spannten.
»Du hast das gebaut.«
»Zum Teil.« Matthews Blick hob sich zur Halbkuppel über der Apsis, in der Christus auf Seinem Thron abgebildet war, eine Hand erhoben und bereit, sein Urteil zu fällen. »Vor allem das Kirchenschiff. Die Apsis wurde fertiggestellt, während ich … weg war.«
Über Matthews rechte Schulter hinweg blickte mich mit ernster Miene ein Heiliger an. Die Figur hielt ein Zimmermannsmaß und eine langstielige weiße Lilie in der Hand. Es war Joseph, der Mann, der, ohne Fragen zu stellen, eine schwangere Jungfrau zum Weib genommen hatte.
»Wir müssen reden, Matthew.« Noch einmal ließ ich meinen Blick durch die Kirche wandern. »Und vielleicht sollten wir diese Unterhaltung lieber im Château führen. Hier kann man nirgendwo sitzen.« Ich hatte Kirchenbänke nie besonders gemütlich gefunden, aber ich hatte auch noch nie eine Kirche ohne Bänke betreten.
»Kirchen sind nicht dafür da, dass man sich darin wohlfühlt«, sagte Matthew.
»Nein. Aber sie wurden bestimmt auch nicht gebaut, damit sich die Gläubigen darin elend fühlen.« Mein Blick suchte die Wandmalereien ab. Falls Glaube und Hoffnung so innig miteinander verwoben waren, wie Philippe angedeutet hatte, dann war dort bestimmt etwas zu finden, was Matthews Stimmung aufhellen konnte.
Ich entdeckte Noah mit seiner Arche. Eine globale Katastrophe, bei der um ein Haar sämtliches Leben ausgelöscht worden wäre, verhieß nichts Gutes. Ein Heiliger schlug heroisch auf einen Drachen ein, aber diese Szene erinnerte für meinen Geschmack zu sehr an eine Jagd. Der Kircheneingang war dem Jüngsten Gericht gewidmet. Oben bliesen Engelscharen in ihre Trompeten, während ihre Flügelspitzen den Boden streiften, aber das Bild der Hölle darunter – das so angebracht war, dass man die Kirche unmöglich verlassen konnte, ohne den Verdammten in die Augen zu blicken – war einfach grauenerregend. Die Wiederauferstehung des Lazarus konnte einem Vampir kaum Trost spenden. Die Jungfrau Maria bot auch keine Hilfe. Sie stand Joseph gegenüber am Eingang zur Apsis, den Blick in stiller Heiterkeit ins Jenseits gerichtet, so als wollte sie Matthew daran erinnern, was er alles verloren hatte.
»Wenigstens sind wir hier ungestört. Philippe kommt so gut wie nie hierher«, erklärte Matthew müde.
»Dann bleiben wir hier.« Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu und sprang dann kopfüber ins kalte Wasser. »Was setzt dir so zu, Matthew? Erst dachte ich, es wäre der Schock, in dein früheres Leben einzutauchen, dann dachte ich, es wäre die Aussicht, noch einmal auf deinen Vater zu treffen und ihm seinen Tod verheimlichen zu müssen.« Matthew blieb auf den Knien, mit gesenktem Kopf, den Rücken mir zugewandt. »Aber inzwischen weiß dein Vater, was ihn erwartet. Also muss es einen anderen Grund geben.«
Die Luft in der Kirche drückte mir auf die Brust, so als hätte ich mit meiner Frage den Sauerstoff aus dem Raum gesogen. Außer dem Gurren der Tauben im Glockenturm war nichts zu hören.
»Heute hätte Lucas Geburtstag gehabt«, antwortete Matthew schließlich.
Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag. Ich sank hinter ihm auf die Knie, und mein preiselbeerroter Rock breitete sich wie ein See um mich aus. Philippe hatte recht. Ich kannte Matthew längst nicht so gut, wie ich dachte.
Sein Finger deutete auf eine Bodenplatte zwischen ihm und dem heiligen Josef. »Er liegt genau dort, zusammen mit seiner Mutter.«
Nichts auf dem Stein deutete darauf hin, dass darunter jemand begraben lag. Stattdessen entdeckte ich glatte Vertiefungen, wie Füße sie nach vielen, vielen Jahren auf Treppenstufen hinterlassen. Matthews Finger streckten sich, kamen genau in den Vertiefungen zu liegen, ehe sie sich wieder zurückzogen.
»Als Lucas starb, starb mit ihm etwas in mir. Blanca ging es genauso. Ihr Körper folgte seinem ein paar Tage später, aber da waren ihre
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