Wo die Nacht beginnt
hereinbrach.
»Nachdem Ysabeau ihm seine Bitte abgeschlagen hatte, entdeckten wir Philippe dabei, wie er sich die Pulsadern aufzuschlitzen versuchte. Er konnte das Messer nicht fest genug halten, um den Schnitt richtig zu setzen. Er hatte sich zwar mehrmals geschnitten, und alles war voller Blut, aber die Wunden waren flach und schlossen sich gleich wieder.« Matthew redete immer schneller, inzwischen strömten die Worte nur so aus ihm heraus. »Je mehr Blut Philippe verlor, desto verzweifelter wurde er. Nach seinen Erlebnissen im Lager konnte er den Anblick von Blut nicht mehr ertragen. Ysabeau nahm ihm das Messer ab und versprach, dass sie ihm helfen würde, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber Maman hätte sich das nie verziehen.«
»Also hast du es getan.« Ich sah ihm in die Augen. Ich hatte mich immer dem gestellt, was er getan hatte, um als Vampir zu überleben. Vor dem Wissen um seine Sünden als Ehemann, Vater und Sohn konnte ich genauso wenig die Augen verschließen.
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Ich trank sein Blut, damit Philippe nicht mit ansehen musste, wie seine Lebenskraft verströmte.«
»Aber dann hast du gesehen …« Mir war das Grauen anzuhören. Wenn ein Vampir das Blut einer anderen Kreatur trank, dann sickerten mit dem Blut in flüchtigen Bildern die Erinnerungen dieses Wesens in seinen Leib ein. Matthew hatte seinen Vater von dessen Qualen erlöst, aber dabei hatte er alles geteilt, was Philippe durchlitten hatte.
»Bei den meisten Kreaturen kommen die Erinnerungen in einem stetigen Fluss, wie ein Band, das sich aus der Dunkelheit windet. Bei Philippe war es, als müsste ich Glasscherben schlucken. Auch nachdem ich über das hinweg war, was er kurz vor seinem Tod durchgemacht hatte, war sein Geist so zersplittert, dass ich kaum weitertrinken konnte.« Er zitterte immer heftiger. »Es schien kein Ende nehmen zu wollen. Philippe war gebrochen, verloren und verängstigt, aber sein Herz hatte seine Kraft bewahrt. Seine letzten Gedanken galten Ysabeau. Es waren die einzigen Erinnerungen, die noch intakt waren, die noch ihm gehörten.«
»Es ist schon gut«, murmelte ich immer wieder und hielt ihn mit aller Kraft, bis das Zittern endlich nachließ.
»In der Old Lodge wolltest du wissen, wer ich wirklich bin. Ich bin ein Mörder, Diana. Ich habe schon Tausende getötet«, sagte Matthew ruhig und mit gedämpfter Stimme. »Aber keinem davon musste ich je wieder in die Augen sehen. Ysabeau kann mich nicht ansehen, ohne an den Tod meines Vaters zu denken. Und jetzt muss ich mich auch deinem Blick stellen.«
Ich nahm seinen Kopf in beide Hände und hielt ihn von mir weg, bis wir uns in die Augen sahen. Normalerweise hinterließen die Wunden, die Zeit und Erfahrung geschlagen hatten, keine Spuren auf Matthews makellosem Gesicht. Diesmal lag sein ganzes Leid offen zutage, doch für mich wurde er dadurch umso schöner. Endlich verstand ich den Mann, den ich liebte: sein Beharren darauf, dass ich mir bewusst machte, wer und was ich war, seine Weigerung, Juliette zu töten, selbst wenn er damit sein eigenes Leben retten konnte, seine tiefe Überzeugung, dass ich ihn unmöglich lieben könnte, wenn ich ihn wirklich kennen würde.
»Ich liebe alles an dir, Matthew: den Krieger und den Wissenschaftler, den Mörder und den Heiler, die Dunkelheit und das Licht.«
»Wie kannst du das?«, flüsterte er ungläubig.
»Philippe hätte unmöglich so weiterleben können. Dein Vater hätte immer wieder versucht, sich das Leben zu nehmen, und so wie du es erzählst, hatte er wahrhaftig genug gelitten.« Wie sehr, konnte ich mir nicht ausmalen, aber mein geliebter Matthew hatte es erlebt. »Was du getan hast, war ein Akt der Gnade.«
»Als alles vorbei war, wollte ich nur noch verschwinden. Ich wollte Sept-Tours verlassen und nie mehr zurückkehren«, gestand er. »Doch Philippe ließ mich schwören, dass ich die Familie und die Bruderschaft zusammenhalten würde. Außerdem musste ich ihm geloben, dass ich mich um Ysabeau kümmern würde. Darum blieb ich hier, nahm seinen Platz ein, zog die politischen Fäden, die er gezogen haben wollte, und beendete den Krieg, für den er sein Leben gegeben hatte.«
»Philippe hätte Ysabeaus Wohlergehen keinesfalls jemandem anvertraut, den er verabscheute. Genauso wenig hätte er den Lazarusorden von einem Feigling führen lassen.«
»Baldwin warf mir vor, in Wahrheit hätte sich Philippe etwas anderes gewünscht. Er hatte geglaubt, die Bruderschaft würde ihm
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