Wo die Nelkenbaeume bluehen
Stimmen miteinander sprachen.
In den letzten Monaten hatte Annemarie sich daran gewöhnt, dass die Menschen sie anstarrten. Eine große blonde Frau in feiner Kleidung sah man hier auf Sansibar nicht alle Tage. Inzwischen störte sie es kaum mehr, obschon sie es noch immer wahrnahm. Doch gerade heute war es besser, sich nicht so leicht zu erkennen zu geben, also zog sie das leichte Tuch, das über ihren Schultern lag, zurecht, sodass es ihr Haar bedeckte.
Der Treffpunkt, den sie mit Nathan Alistair ausgemacht hatte, lag hinter der großen Kathedrale, die auf dem Platz errichtet worden war, an dem früher der Sklavenmarkt stattgefunden hatte. Doch das tat dem regen Handel mit Menschen keinen Abbruch – er hatte sich einfach nur an andere Orte verlagert.
Sie blickte sich um, doch Alistair war nirgends zu sehen. Nach ein paar Minuten wurde sie unruhig.
Er wird schon kommen, sagte sie zu sich selbst. Doch eine leise, aber beharrliche innere Stimme behauptete, dass es verrückt war, daran zu glauben.
Vermutlich war ihm klar geworden, dass es ein Fehler war, sich mit einer verheirateten Frau zu treffen. Einer Ehefrau, deren Mann auf Sansibar über einigen Einfluss verfügte.
Sie unterdrückte ein Seufzen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Als sie wieder aufblickte, war er da.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann umso heftiger zu pochen. Er kam näher, und sie widerstand nur mühsam dem Verlangen, die Arme um seinen Hals zu schlingen und das Gesicht an seiner Brust zu bergen.
Was war nur mit ihr geschehen? Sie kannte diesen Mann doch kaum!
Er lächelte. Es war ein unsicheres, zaghaftes Lächeln, das dennoch seine grauen Augen zum Leuchten brachte. Auch er war sich seiner Sache offenbar nicht sicher. Trotzdem war er zur verabredeten Zeit zum Treffpunkt gekommen.
„Sie sind hier“, stellte er fest. Sie konnte seiner Stimme nicht entnehmen, ob er überrascht war.
Ihre Knie zitterten. „Ja.“
„Kommen Sie“, sagte er und nahm ihre Hand. „Hier ist es nicht sicher. Ich weiß einen Ort, an dem wir ungestört sein können.“ Er lächelte wieder. „Einen sicheren Hafen.“
Dieser „sichere Hafen“ entpuppte sich als eine verlassene Lagerhalle nahe den Docks, die sie über ein Netzwerk verschlungener Gassen und Straßen erreichten, das Nathan blind zu kennen schien.
Ein junger Mann mit feuerrotem Haar erwartete sie und schloss das Tor hinter ihnen, nachdem sie hindurchgetreten waren. „Verdammt, Kumpel, das hat ja ganz schön lange gedauert“, schimpfte er mit einem breiten Grinsen, das ihn sehr knabenhaft erscheinen ließ, auch wenn er sicherlich in Nathans Alter war. „Was hat euch aufgehalten?“
Nathan antwortete nicht. „Dieser unverschämte Kerl hört auf den Namen Mack Halliday“, erklärte er Annemarie stattdessen. „Er hat keinerlei Manieren, aber davon abgesehen ist er der beste Freund, den man nur haben kann.“
Annemarie lächelte. Mack war ihr sympathisch. Und dass geschliffene Umgangsformen nicht zwangsläufig auch für einen guten Charakter standen, hatte Albrecht sie gelehrt. „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr Halliday.“
„Einfach nur Mack, Ma’am“, entgegnete er und errötete ein wenig. „Und, aye , ich freue mich auch.“
Nathan klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Du hältst die Augen offen, ja?“
Er nickte. „ Aye .“
Annemarie folgte Nathan in einen kleinen Raum im oberen Stockwerk der Lagerhalle. Die Fenster, die zur Halle hinunterblickten, und die in die Tür eingelassene Scheibe waren blind und angelaufen, und Annemarie erwartete, dass der Verfall auch vor dem Raum selbst nicht haltgemacht hatte.
Umso überraschter war sie, ein gemütlich eingerichtetes, blitzblank gewienertes Zimmer vorzufinden.
Unwillkürlich fragte sie sich, wozu es bisher genutzt worden war, und ihr Blick offenbarte diese Fragen anscheinend, denn zu ihrer Überraschung errötete Nathan leicht.
„Mack hat das hier eine Weile als Liebesnest genutzt, aber“, er hob beschwichtigend die Hände, „das ist nicht der Grund, warum ich Sie hierher gebracht habe. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich finde Sie sehr schön, aber …“ Er schüttelte den Kopf und machte ein unglückliches Gesicht. „Ich glaube, ich rede mich gerade um Kopf und Kragen.“
Annemarie schaute sich lächelnd um und strich versonnen mit dem Finger über die alte Eichenkommode, die unter dem Fenster stand. Dann drehte sie sich zu ihm um, und ihr Herz fing wieder an zu
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