Wo die Nelkenbaeume bluehen
gesagt hatte. Aber wie konnte sie sicher sein, dass er nicht nur mit ihren Gefühlen spielte? Er war immer so fixiert darauf gewesen, dieses verdammte Hotel zu bauen …
„Ich war früher oft mit meiner Schwester hier“, sagte er mit einem versonnenen Lächeln. Sein Blick war auf den fernen Horizont gerichtet, doch er schien ihn nicht wirklich wahrzunehmen. Es war, als würde er geradewegs in die Vergangenheit blicken. „Rachel. Sie und ich, wir waren die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Ich hätte alles für Rachel getan und sie für mich. Dieser Strand hier war so etwas wie unser Rückzugsort. Ein Platz, zu dem wir gegangen sind, um unter uns zu sein, zu reden, zu schweigen. Für uns war dieser Ort unser privates kleines Paradies.“ Er machte eine kurze Pause, seine Miene wirkte zärtlich, liebevoll. „Eines Tages fing Rachel an, laut davon zu träumen, hier ein Hotel zu bauen. Eine Zuflucht für alle Menschen, die Ruhe und Frieden suchen.“
Lena lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und spürte das sanfte Prickeln der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. „Was ist dann passiert?“, fragte sie nach einer Weile.
„Ich hatte einen Freund. Sein Name war Yasin. Rachel verliebte sich in ihn. Sie war damals sechzehn, Yasin und ich achtzehn.“ Er holte tief Luft und blinzelte. „Ich habe sie ihm anvertraut. Er war mein Freund. Ich wusste, dass er sie gut behandeln, dass er auf sie aufpassen würde. Als dann Gerüchte von Ausschreitungen infolge der ersten Mehrparteienwahlen laut wurden, war Rachel bei Yasin. Ich machte mir keine Gedanken. Bei ihm war meine Schwester in guten Händen, davon war ich fest überzeugt. Mein Freund würde nicht zulassen, dass ihr auch nur ein Haar gekrümmt wurde.“
Lena schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Außerdem wollte sie Stephen nicht unterbrechen.
„Aus den Gerüchten wurde traurige Gewissheit“, fuhr er fort. „Blutige Auseinandersetzungen tobten überall. Unsere Eltern wurden unruhig, und auch ich machte mir Sorgen. Wir hatten seit dem frühen Morgen nichts von Rachel gehört. Ich versuchte mir einzureden, dass Yasin und sie irgendwo untergetaucht wären. Dass sie einen sicheren Platz gefunden hätten und darauf warteten, dass die Situation sich beruhigt. Doch mit jeder Stunde, die verstrich, mit jeder Nachricht über noch mehr Tote und Verletzte, schwand meine Hoffnung.“ Plötzlich wandte er ihr den Blick zu und schaute sie direkt an. „Ich hatte Angst“, gestand er. „Schreckliche Angst.“ Er presste die Lider zusammen, wie um die Bilder zu vertreiben, die vor seinem inneren Auge aufblitzten. „Ich machte mich auf die Suche nach ihnen. Unsere Eltern versuchten mich davon abzuhalten, doch mich kümmerte die Gefahr nicht, in die ich mich selbst brachte. Ich konnte immer nur an Rachel denken.“
Er machte eine kurze Pause, legte die Hände zusammen, sodass beide Daumen seine Lippen berührten und seine Zeigefinger auf seiner Stirn lagen. „Es dauerte achtundvierzig Stunden, bis ich sie fand. Die ganze Insel befand sich in Aufruhr. Es herrschte Chaos, die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten. Ich entdeckte Rachel auf einer Rolltrage auf dem Klinikflur. Sie war nicht ansprechbar.“ Der Hauch eines Lächelns legte sich auf seine Lippen, erreichte seine Augen jedoch nicht. „Ich griff mir den erstbesten Arzt, den ich finden konnte. Er untersuchte Rachel. Sie hatte eine Kopfverletzung erlitten, außerdem zahllose Prellungen und Abschürfungen. Der Arzt machte mir klar, dass er im Augenblick nichts für sie tun konnte, doch damit wollte ich mich nicht abfinden. Ich nahm sie mit und klapperte sämtliche Krankenhäuser ab. Doch niemand konnte mir etwas anderes sagen.“ Er räusperte sich angestrengt, bevor er weitersprach. „Rachel wurde nie wieder richtig gesund. Sie lebt, wofür ich im Grunde schon dankbar sein muss, denn viele andere hatten nicht so viel Glück, aber …“
Lena schaute ihn an, und alles, was sie in seinen Augen sah, war absolute Offenheit. Stephen hatte nichts zurückgehalten, nichts geschönt, nichts verändert. Sie wusste, dass er sich schuldig fühlte für das Schicksal seiner Schwester. Dass er glaubte, er hätte das, was mit ihr geschehen war, verhindern können, wenn er nur besser auf sie achtgegeben hätte. Sie selbst war anderer Meinung. Manche Dinge passierten einfach, ohne dass irgendjemand auf der Welt etwas daran ändern konnte. Doch wenigstens verstand sie nun, warum er so versessen darauf war, dieses
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