Wo die Nelkenbaeume bluehen
arbeitete still weiter. Träge lehnte Lena sich zurück und beobachtete versonnen, wie die Wolken am Himmel entlangzogen. Ein Gefühl von Frieden breitete sich in ihr aus. Nicht wirklich greifbar, hüllte es sie doch ein in einen Kokon aus Wohlbehagen und Zufriedenheit.
War dieses kleine Glück es nicht schon wert, dafür ein paar Risiken einzugehen?
„Ich werde es auf jeden Fall tun“, sagte sie so unvermittelt, dass Aaliyah unwillkürlich aufschaute. „Und zwar, weil ich es will. Nur – wird es mir auch gelingen, Stephen zu überbieten?“
Direkt unter der Veranda befand sich ein kleiner Hohlraum, der dazu diente, dass das Regenwasser, von dem es in der Zeit des Südwestmonsuns reichlich gab, ablaufen konnte. Er besaß einen Zugang vom Erdgeschoss aus, sodass man ihn von verrottenden Blättern und anderem Unrat befreien konnte, wenn es nötig war. Diesen Zugang hatte Hashim im letzten Sommer entdeckt und nutzte ihn seitdem regelmäßig, um die Erwachsenen heimlich bei ihren Erwachsenengesprächen zu belauschen. Sehr zu seinem Verdruss behandelten seine Mutter und sein Vater ihn nämlich immer noch wie einen kleinen Jungen, und das, obwohl er vor drei Monaten zwölf Jahre alt geworden war. Ohne das Versteck unter der Veranda hätte er wohl erst davon erfahren, dass sie vermutlich ihr Zuhause verlieren würden, wenn es bereits beschlossene Sache war.
Hashim lebte hier auf der Farm, seit er denken konnte – wahrscheinlich sogar noch länger. Und die meisten der anderen Jungs, die er kannte, beneideten ihn nicht nur um den Fernseher, den der alte Mr Rafe vor ein paar Jahren angeschafft hatte. Nein, die Plantage selbst war der beste Abenteuerspielplatz, den man sich vorstellen konnte. In einem der Affenbrotbäume hatte sein Vater ihm ein Baumhaus gebaut, das man nur über eine Strickleiter erreichte (was den Vorteil hatte, dass seine kleine Schwester Marjani ihm nicht dorthin nachkommen konnte). Und Jengo, der geschickteste Kletterer unter den Farmarbeitern, hatte ihm versprochen, dass er ihm in den nächsten Monaten beibringen würde, wie man auf die hohen Kokospalmen kletterte, um deren Nüsse zu pflücken. Als er es vor Kurzem auf eigene Faust versucht hatte, war er auf halber Höhe abgerutscht und hatte sich den Knöchel verletzt.
Unter den Kindern der Arbeiter war er, abgesehen von Imani (die ein Mädchen war, und deshalb nicht zählte) das Älteste, und es gefiel ihm, dass die anderen zu ihm aufblickten. Und nicht zuletzt mochte er es, in dem großen Haus zu wohnen anstatt in einer ärmlichen Hütte ohne Möbel.
Genau in einer solchen würden sie jedoch landen, wenn dieser Engländer, wie seine Eltern Stephen Alistair nannten, die Farm kaufte. Entweder in einer Hütte oder in einem dieser hässlichen Häuser am Rande von Stone Town.
Aber Hashim wollte nicht von hier fort! Dies war schließlich sein Zuhause!
Und deshalb schien es ihm, als wäre ihnen Lena von Allah geschickt worden. Sie kam aus Deutschland. Hashim hatte in Mr Rafes altem, vergilbtem Atlas nachgesehen und herausgefunden, dass dieses Land sich praktisch auf der anderen Seite der Welt befand. Das machte Lena in seinen Augen noch faszinierender, als sie es ohnehin schon war. Ihr helles Haar und die blasse, fast durchscheinende Haut ließ sie wie ein malaika – ein Engel – wirken. Sie war die schönste Frau, die Hashim je getroffen hatte, und immer, wenn er sie sah, fing sein Herz an, wie verrückt zu klopfen.
Und wie er nun erfahren musste, machte dieser Stephen Alistair ihr Probleme.
„Ich fürchte, meine einzige Chance, als Höchstbietende aus der Versteigerung hervorzugehen, besteht darin, dass Stephen gar nicht erst erscheint“, hörte er Lena sagen. „Aber das ist wohl eher unwahrscheinlich.“
„Ja“, seufzte seine Mutter. „Das ist in der Tat sehr unwahrscheinlich. Leider …“
Einen Moment lang blieb Hashim noch in seinem Versteck hocken, während er überlegte, was man tun konnte. Da kam ihm plötzlich eine Idee.
Wie elektrisiert kroch er durch die lose Deckenplatte im Abstellraum neben der Küche und huschte durch die Hintertür ins Freie. Mit einem schrillen Pfiff rief er seine Freunde, die sofort aus allen Ecken und Enden der Plantage herbeigelaufen kamen.
„Was ist denn schon wieder?“, fragte Imani, die gemächlich als Letzte angetrottet kam. Als Älteste versuchte sie immer gern, das Ruder an sich zu reißen. Hashim dachte jedoch gar nicht daran, sich von einem Mädchen auf der Nase herumtanzen zu
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