Wo die Nelkenbaeume bluehen
bewegen sollte – schon gar nicht so spät am Tag!“
Es stimmte: Die Hafengegend war dafür bekannt – oder vielmehr berüchtigt –, dass sich hier nach Einbruch der Dunkelheit übles Volk herumtrieb. Trinker und Spieler, Matrosen aus aller Herren Länder, Halsabschneider, Diebe und Huren. Ein hysterisches Kichern stieg in Annemarie auf, das sie nicht unterdrücken konnte. Vermutlich befand sich auch das Hurenhaus, in dem ihr Mann aus und ein ging, ganz in der Nähe …
„Kommen Sie“, sagte Nathan Alistair und führte sie aus der Gasse. Im schummrigen Licht, das durch die Fenster der Häuser hinaus auf die Straße fiel, sah sie ihn zum ersten Mal richtig.
Er war mindestens ebenso groß wie Albrecht und überragte sie um mindestens einen Kopf. Doch im Gegensatz zu ihrem Mann, den sein ausschweifender Lebensstil bereits deutlich gezeichnet hatte, obwohl er gerade erst Mitte zwanzig war, waren Nathan Alistairs Züge wie in Stein gemeißelt. Er trug eine Uniform, die ihm ausnehmend gut stand. Britische Marine, wie Annemarie anhand seines Namens und seiner englischen Aussprache vermutete.
„Ich bringe Sie zu einem Arzt“, sagte er. „Sie sollten sich untersuchen lassen. Diese Barbaren sind reichlich unsanft mit Ihnen umgegangen und …“
„Nein“, protestierte Annemarie sofort. „Keinen Arzt! Mir geht es gut – wirklich!“
Alistair runzelte die Stirn, gab dann aber nach. „Also gut, ganz wie Sie wollen. Aber dann bringe ich Sie wenigstens nach Hause. Und auf dem Weg dorthin erzählen Sie mir, wie Sie in diese missliche Lage geraten konnten.“ Er bot ihr seinen Arm, und Annemarie hakte sich nach kurzem Zögern bei ihm unter. Fragend hob er eine Braue. „Wohin also?“
Annemarie erklärte es ihm.
„Natürlich, ich kenne das Rosenthal-Kontor. Es ist einer der größten in der Umgebung, aber … Ich dachte immer, Rosenthal hätte nur einen Sohn, diesen Albrecht. Dass der alte Haudegen auch noch eine Tochter hat, wusste ich nicht.“
„Nur eine Schwiegertochter“, entgegnete sie. „Ich bin Annemarie, Albrecht Rosenthals Frau.“
Die Miene des jungen Mannes verdunkelte sich unwillkürlich, doch er nickte. „Ich hatte schon gehört, dass er geheiratet hat, und mich gefragt, wer die arme Unglückliche wohl sein mochte …“ Dann schüttelte er den Kopf. „Verzeihen Sie bitte, es steht mir nicht an, so etwas zu sagen.“
„Aber nein, Sie haben doch recht“, entgegnete sie mit einem gequälten Lächeln. Es mochte verrückt sein, doch aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, diesem fremden Mann vertrauen zu können. Und sie musste einfach jemandem ihr Herz ausschütten, sonst würde sie noch den Verstand verlieren.
Sie erzählte ihm alles. Von Albrechts schändlichem Verhalten den weiblichen Bediensteten gegenüber, der Art und Weise wie er sie, seine Ehefrau, behandelte, und nach kurzem Zögern auch von ihrem schrecklichen Verdacht, was den Tod seines Vaters betraf.
Als sie geendet hatte, schwieg der junge Marinesoldat zunächst. Seine Miene war wie versteinert. Annemarie vermochte daran nicht abzulesen, was er dachte oder empfand.
Als sie nur noch zwei Querstraßen vom Kontor entfernt waren, blieb Annemarie stehen. „Mein Mann darf uns auf keinen Fall zusammen sehen“, erklärte sie mit gesenktem Blick. „Es tut mir leid, dass ich Sie mit meinen Sorgen und Problemen belastet habe. Ich …“ Sie schüttelte den Kopf und verstummte.
Er hob die Hand, legte ihr einen Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht an, sodass sie ihn ansehen musste. „Bitte, entschuldigen Sie sich nicht“, sagte er und strich ihr mit dem Daumen übers Kinn – eine Berührung so sanft und zärtlich, dass ihr Herz zu flattern begann. „Wie kann ich Sie jetzt einfach gehen lassen, zurück zu diesem Ungeheuer?“
„Ich muss zurück“, entgegnete Annemarie mit erstickter Stimme. „Es geht nicht anders.“
Er nickte. „Ich weiß. Trotzdem macht mich die Vorstellung fast wahnsinnig, dass …“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Annemarie. „Danke für alles.“
Mit diesen Worten stellte sich auf die Zehenspitzen, legte eine Hand in seinen Nacken und küsste ihn auf die Lippen.
Es war im Grunde nur der flüchtige Schatten eines Kusses, und dennoch löste er in Annemarie ein unvorstellbares Gefühlschaos aus. Hastig wandte sie sich ab und wollte davonlaufen, doch Nathan hielt sie zurück.
„Werden wir uns wiedersehen?“, fragte er.
Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, aus Angst, dass sie die Kontrolle
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