Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Frühstück muss ich zur Polizei und die Sache mit Kaplan Wittgen zur Anzeige bringen. Paul wollte es an sich selbst in die Hand nehmen, aber er ist ja erst einmal außer Gefecht gesetzt.“
Satorius nickte. „Lorenzo und ich werden Paul in der Zwischenzeit zu Frau Dr. Hofmann begleiten, damit sie ihn sicherheitshalber röntgt.“
„Wenn ich mit der Polizei fertig bin, würde ich gerne nachkommen, um zu sehen, wie es ihm geht“, sagte ich.
„Gerne“, antwortete Satorius. „Wir lassen Paul noch kurz schlafen, wecken ihn dann auf und fahren zur Ärztin.“
„Ich würde sagen“, meinte Lorenzo, während er die Rühreier und den Speck auf dem Teller vor mir drapierte, „wir könnten uns dort so gegen elf Uhr treffen.“
Ich stocherte in meinem Essen herum. Mein Kaffee blieb unangetastet.
„Dich bedrückt etwas, Anne?“, fragte Satorius und beugte sich zu mir vor, um mir besser ins Gesicht sehen zu können. Er hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte.
„Mich bedrückt nichts, aber ist es für euch auch in Ordnung, wenn ich den Kindesmissbrauch mit dem Kaplan melde? Ich meine, ihr habt doch nichts dagegen, oder? Ihr wisst, ich kann das nicht einfach so hinnehmen. Das geht nicht.“
Satorius stützte beide Ellenbogen auf dem Tisch auf und legte das Kinn in seine Hände. „Wenn du das nicht anzeigen würdest, würden Lorenzo und ich das tun. So ein Monster, wie dieser Wittgen, gehört aus der menschlichen Gesellschaft entfernt – am besten für immer.“
Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund war ich sehr erleichtert über das, was mir Satorius sagte.
Lorenzo blickte auf seine Armbanduhr. „Ich denke, es ist an der Zeit, Paul zu wecken, wenn wir alles noch zeitlich in den Griff bekommen wollen.“
„Ich kann dir helfen“, bot ich mich an.
„Nein, nein“, winkte Lorenzo ab, „du musst wieder zu Kräften kommen. Iss in Ruhe dein Frühstück. Um Paul kümmere ich mich.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, verließ er das Esszimmer und schloss die Tür zum Flur hinter sich.
„Ihr habt es gut“, sagte ich zu Satorius.
„Du meinst Lorenzo und mich.“
Ich nickte.
„Das stimmt. Wir haben uns als junge Männer kennengelernt. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick und sie hat bis jetzt gehalten – allen Widrigkeiten des Lebens zum Trotz.“
„Ein wunderbares Geschenk“, stellte ich fest.
„Du hattest nicht so viel Glück.“
„Nein. Der Mann, von dem ich dachte, dass er mich liebte, benutzte die erste Möglichkeit, um mich loszuwerden und hat obendrein noch meine Tochter mitgenommen.“
Die Stimme von Satorius klang milde. „Das ist ungewöhnlich. Normalerweise bleiben die Kinder bei ihren Müttern.“
„Normalerweise ist der Vater auch kein erfolgreicher Anwalt und mit allen Wassern gewaschen. Ich kann froh sein, dass ich ihm nicht auch noch Unterhalt zahlen muss.“
„Das mit deiner Tochter muss dir sehr wehtun.“
Ich verzog schmerzhaft das Gesicht und blickte in meinem Kaffee. „Selbstverständlich. Es ist die reinste Hölle für mich. Aber ich kann nichts dagegen tun.“ Ich setzte die Tasse an meine Lippen, trank aber nicht, sondern stellte sie unangetastet zurück. „Wenn ich versuche, etwas gegen ihn zu unternehmen, dann wird er dafür sorgen, dass ich nicht einmal mehr mit meiner Tochter telefonieren kann. Nicht nach dem, was geschehen ist.“
Die Miene von Satorius war ausdruckslos und still. „Du sprichst jetzt von dem Vorfall, der dich gezwungen hat, die Polizei zu verlassen, oder?“
Ich bewegte kaum merklich meinen Kopf als Zeichen der Zustimmung. Ich brachte aber kein Wort heraus.
„Du musst nicht darüber reden.“
„Und du musst mich nicht therapieren“, entgegnete ich scharf.
„Ist das so offensichtlich?“ Der Ausdruck in Satorius Augen änderte sich. Sie wurden weich und mitfühlend.
„Du weißt doch, was passiert ist“, warf ich ihm an den Kopf, doch Satorius ging auch auf meine neuerliche Provokation nicht ein.
„Ich habe nur die Berichte gelesen. Aber deine Geschichte kenne ich nicht.“
„ Meine Geschichte“, wiederholte ich bitter. „Ich habe in einem Entführungsfall ermittelt und dabei das Opfer verloren.“ Ich sah Satorius jetzt direkt an und die weiteren Worte sprudelten wie von selbst aus mir heraus. „Es handelte sich um ein Kind, um einen kleinen Jungen. Er ist elend krepiert. Aber das war allen egal. Stattdessen warf man mir vor, ich hätte den Entführer zu hart befragt.“
Satorius erwiderte nichts. Er
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