Wo die toten Kinder leben (German Edition)
seinem Rollstuhl. Er kam gerade in den Raum gefahren. Sein weißes Haar war sauber gekämmt. Seine wasserblauen Augen waren konzentriert und voller Sorge.
Lorenzo knöpfte umgehend Pauls Hemd, oder das, was davon übrig war, auf, und zog es beiseite. Als Pauls Verletzungen zum Vorschein kamen, sog ich scharf die Luft ein.
Satorius fuhr bis zum Tisch. Er untersuchte Paul gründlich, klopfte und horchte ihn ab. Danach griff er in eine der Taschen seiner Hausjacke und holte ein längliches Etui heraus. „Lorenzo, du gibst Paul eine der Ampullen hier.“
„Die ganze Ampulle?“, vergewisserte sich Lorenzo und Satorius nickte, bevor er sich mir zuwandte: „Keine Sorge. Es ist nur ein Beruhigungsmittel. Ich kenne Paul. Er ist immer hellwach, wenn er Schmerzen hat und findet keine Ruhe. Nach dieser Spritze wird er schlafen. Das ist das Beste für ihn.“
Paul war bei Bewusstsein. Er versuchte, seinen Kopf zu heben. „Was ist? Muss ich in die Klinik?“
Satorius beugte sich vor und tätschelte Pauls Hand. „Nein. Mach dir keine Gedanken. So, wie es aussieht, hast du keine inneren Verletzungen. Morgen werden wir dich röntgen lassen. Aber bis dahin schläfst du dich erst einmal aus.“
Gemeinsam mit Lorenzo richtete ich Paul auf. Wieder versuchte er, uns zu helfen, so gut er konnte. Wir führten ihn durch eine andere Tür aus dem Wintergarten hinaus und kamen schließlich über einen weiteren Gang in ein komfortables Eckzimmer.
Lorenzo brachte Paul zu dem Bett, das in dem Raum stand und half ihm, sich hinzusetzen. Gemeinsam zogen wir Paul die verdreckte und zerrissene Kleidung aus. Diesmal war ich vorbereitet und ignorierte die zahllosen Blutergüsse und Schwellungen an seinem Körper. Wir halfen Paul beim Hinlegen und deckten ihn zu.
Lorenzo ging kurz aus dem Raum und kehrte mit einem Desinfektionsmittel und etwas Watte zurück. Er reichte mir beides. Ich setzte mich zu Paul und reinigte seine Armbeuge gründlich mit einem getränkten Bausch. Währenddessen bereitete Lorenzo die Spritze vor. Er setzte die Ampulle fachmännisch ein, überprüfte, ob sich in der Spritze Luft befand, dann stach er die Nadel tief in Pauls Arm.
Paul sah uns die ganze Zeit über zu. Er versuchte, zu lächeln. Einmal berührten sich unsere Hände und er strich mir mit dem Zeigefinger über den Handrücken.
Bald entspannte er sich, sein Kopf sank auf das Kissen und seine tiefen Atemzüge bewiesen, dass er friedlich schlief.
„Wir können jetzt nichts weiter für ihn tun, mia cara“, meinte Lorenzo.
„Ich werde bei ihm bleiben“, sagte ich.
„Nein, du ruhst dich aus“, erwiderte Lorenzo. „Ich übernehme die Wache.“ Er deutete auf den Sessel, der sich in einer Ecke des Raums befand. „Ich kann die Nacht dort schlafen.“
Mit einem Mal spürte ich die Anstrengungen der vergangenen Stunden deutlich und auch die bohrenden Rückenschmerzen meldeten sich zurück. „Das würdest du tun?“, fragte ich und schämte mich im gleichen Augenblick für meine Schwäche.
Doch Lorenzo lächelte. „Ja natürlich. Du siehst ziemlich mitgenommen aus, wenn ich das so sagen darf.“
„Bei meinem Beruf wird man nicht jünger“, erwiderte ich, unzufrieden mit mir selbst.
Lorenzo verstand meinen Groll falsch. Er bezog ihn auf sich. „Ah, mia cara, so habe ich das doch nicht gemeint“, beeilte er sich zu sagen. „Du bist eine wirklich attraktive Frau. Deine grünen Augen funkeln und dein langes blondes Haar ist eine einzige Pracht. Als ich noch jung war, hatte mein Haar eine ähnliche Farbe, es war nicht so grau, wie es jetzt ist. Friedrich, ich meine Professor Satorius, hat mein Haar immer geliebt. Er meinte, es glänze wie die Sonne.“ Lorenzo lächelte wehmütig, dann tätschelte er liebevoll meine Schulter.
„Danke“, meinte ich besänftigt. „Ein paar Komplimente tun mir jetzt wirklich gut.“
Paul hatte angefangen, leise und regelmäßig zu schnarchen.
„Hier können wir nichts weiter tun“, sagte Lorenzo. „Ich denke, Friedrich will dir einige Fragen stellen. Wir sollten jetzt zu ihm gehen.“
Wir lehnten die Türe lediglich an, um Paul nicht zu stören und machten uns auf den Weg zurück Richtung Wintergarten.
21
W ir mussten nicht bis zum Wintergarten gehen. Satorius erwartete uns bereits im Esszimmer. Das Licht war angenehm gedimmt. Die leichten Schatten ließen das energische Gesicht des Professors weicher und umgänglicher erscheinen.
„Wie geht es Ihnen, Frau Steinbach?“, fragte er mich. Seine Stimme
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