Wo die toten Kinder leben (German Edition)
ich denn tun sollen? Selbstverständlich haben Sie recht. Selbstverständlich habe ich die Kinder gesehen. Selbstverständlich habe ich mir Gedanken gemacht. Aber niemals – glauben Sie mir – niemals hätte ich gedacht, dass Kaplan Wittgen so etwas tun könnte. Niemals – nicht in meinen schlimmsten Träumen.“
Pauls Gesicht war hart, ohne eine Spur von Mitleid. „Das soll ich Ihnen glauben? Soll ich Ihnen sagen, was ich von Ihnen halte? Sie haben doch die Bilder mit uns betrachtet! …Anfangs war ich davon überzeugt, dass die Fotos alle mit Selbstauslöser geschossen worden sind. Aber heute Nacht hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich sah diese grässlichen Fotografien wieder vor mir. Und wissen Sie, was mir da aufgefallen ist? Soll ich Ihnen das sagen? Ich bin der Meinung, dass jemand fotografiert hat. Und was denken Sie, wen ich für den Fotografen halte?“ Paul legte seine lange sehnige Hand auf den Tisch und klopfte mit dem Zeigefinger ein paarmal auf das Holz. Es klang dunkel und dumpf. „Ich bin mir sicher, dass Sie hinter der Kamera standen. Sie haben die Aufnahmen gemacht.“
Die Augen des Pfarrers weiteten sich vor Entsetzen. „ Ich ? Niemals! Sie irren sich! Niemals in meinem Leben könnte ich Kindern so etwas antun!“
„Ach nein?“ Paul lehnte sich zurück. Seine Augen hielten den Pfarrer gnadenlos fest. „Überzeugen Sie mich.“
Der Pfarrer begann zu zittern. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wischte sich nervös über den Mund. „Wie kann ich Sie überzeugen? Wie kann ich das?“
„Wenn Sie nicht den Auslöser am Fotoapparat betätigt haben, muss es jemand anders gewesen sein. Jemand, der sehr vertraut mit Ihrem Kaplan war. Jemand…“, Paul machte eine Pause, „jemand, der die kleinen Geheimnisse dieser Gemeinde hier sehr gut kennt und vor dem Ihr Kaplan keine Angst haben musste, wenn er seine Perversitäten auslebte.“
Pfarrer Winkelmann schwieg.
„Erinnern Sie sich an das einzige Foto, auf dem ein Teil des Gesichtes des Kaplans abgebildet ist? Es trägt einen triumphierenden Ausdruck. Wittgen war stolz auf das, was er da tat. Er schämte sich in keinster Weise – nicht einmal vor dem, der hinter der Kamera stand und der ihn bei seinen Verbrechen aufgenommen hat. …Also, ich frage Sie jetzt noch einmal: mit wem, wenn nicht mit Ihnen, war Ihr Kaplan so eng befreundet und so vertraut, dass er sich bei seinen Verbrechen von ihm fotografieren ließ?“
Pfarrer Winkelmann sah Paul direkt an, wobei er sich seine Haare nach hinten strich. Die Geste wirkte, als habe er sie jahrelang trainiert, um Überlegenheit und Autorität zu signalisieren. Doch jetzt erreichte er damit das genaue Gegenteil. „Wittgen hatte Freunde. Bekannte aus der Studienzeit.“
„Freunde?“
„Ja. Sie trafen sich regelmäßig. Manchmal fuhr er mit ihnen weg.“
„Und diese Freunde , haben die auch Namen?“
„Namen? Nein, Namen weiß ich keine. Ich kann mich jedenfalls an keine erinnern. Ich denke, der Kaplan hat mir nie welche genannt.“
„Dann ist alles, was Sie uns sagen können, dass Ihr Kaplan ab und an Besuch von sogenannten Studienkollegen bekam?“
„Er hat sie mir nie vorgestellt. Sie warteten immer auf der Straße. Er hatte seine Reisetasche gepackt. Sie saßen in einem Auto. Er ging hinaus, warf sein Gepäck in den Kofferraum und los ging’s.“
„Das Auto: welcher Typ Wagen war das?“
„Eine Limousine. Eine dunkle, große Limousine, nehme ich mal an. Ich habe nicht darauf geachtet.“
„Das Kennzeichen? Ist Ihnen da etwas aufgefallen?“
Der Pfarrer stutzte. „Der Wagen war nicht von hier. Er war von auswärts.“
„Ihr Kaplan wurde gelegentlich von einem Auto abgeholt. Wann fanden diese Trips statt?“
„Immer unter der Woche. Unterschiedlich. Nie am Wochenende. An Wochenenden haben wir zu viel zu tun. Er wurde abgeholt. Zwei Tage später kam er wieder zurück. Er meinte, er bräuchte das. Und meiner Meinung nach haben ihm die Kurzurlaube sehr gut getan.“
„Tja, mittlerweile wissen wir, womit er diese Auszeiten verbracht hat“, sagte Paul schneidend.
Der Pfarrer senkte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.
„Und sonst, können Sie sich an nichts erinnern? Wenn Sie ihn benötigt haben, während er weg war, was haben Sie da gemacht? Wie konnten Sie ihn erreichen? Hatte er ein Handy?“
„Nein“, meinte der Pfarrer, „er hatte kein Handy. Er gab mir eine Telefonnummer.“
„Haben Sie die noch?“
„Die müsste sich bei meinen Unterlagen
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