Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Haaren saß am Schreibtisch und war in das Zählen der Tageseinnahmen vertieft. Als ihr Mann mit uns im Schlepptau eintrat, blickte sie unwirsch auf und legte ihre Hände mit einer besitzergreifenden Geste auf die Geldscheine vor sich. In ihrem Gesicht bildeten sich Gewitterwolken. So, wie sie aussah, wollte sie gerade zu einer Schimpfkanonade ansetzen, als ihr Blick auf Paul fiel. Augenblicklich verschwand der Ärger aus ihrem Gesicht, das jetzt lammfromm wirkte.
„Walter! Wen hast du uns denn zu so später Stunde hergebracht? Sehe ich da richtig, ist es ein Priester?“, flötete sie. Behände suchte sie dabei die Geldscheine auf dem Schreibtisch zusammen, bündelte sie mit einem Gummi und steckte das Ganze in eine Schublade, die sie anschließend sorgfältig schloss.
Ihr Mann kratzte sich verlegen am Kopf, um dann zu antworten. „Maria, das sind Pater Wagner und Frau Steinbach. Sie sind vom Dekanat geschickt worden. Sie sind auf der Suche nach geeigneten Häusern für die katholische Bildung. Sie benötigen Schulungsräume. …Und da dachte ich spontan an unsere Pension Schwalbe.“
Frau Brandelmess warf ihrem Mann einen einzigen kurzen Blick zu. Dann stand sie auf, streckte ihren Arm aus, um uns nacheinander herzlich die Hände zu schütteln. „Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Steinbach und Pater Wagner. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Wir hatten kaum Zeit, mit dem Kopf zu schütteln, als die Frau auch schon fortfuhr. „Unsere Pension Schwalbe - …ja, die kann ich Ihnen wirklich wärmstens empfehlen. Sie ist sehr idyllisch gelegen. Mitten im Grünen. Alles ist sehr ruhig. Die Luft ist gut. …Ich denke, das Gebäude wäre für Schulungen bestens geeignet.“
„Kaplan Wittgen hat uns empfohlen, Maria“, warf der Metzgermeister ein.
„Ja, unser lieber Kaplan Wittgen“, nahm seine Frau den Faden auf. „ Wenn Sie ihn kennen, brauche ich gar nicht mehr viel erzählen. Er ist regelmäßiger Stammgast bei uns und bucht die Pension häufig mehrere Tage für seine Kindercamps. …Und er ist stets sehr zufrieden. Ihm gefällt die Abgeschiedenheit und die einfache und doch zweckmäßige Ausstattung unseres Hauses.“ Frau Brandelmess schenkte uns ein Lächeln. „Er meint, das kommt ihm, dem Betreuungspersonal und den Kindern sehr gelegen. So könne man sich auf das Wesentliche konzentrieren.“ Die Metzgersfrau beugte sich zu uns vor. „Wissen Sie, was der Kaplan immer zu mir sagt? …Er sagt: Frau Brandelmess, ihre Pension schickt der Himmel. Sie ist ein idealer Ort, um eins mit den Bedürfnissen von Körper, Geist und Seele zu werden.“
Während ihrer Schilderung hatte sich der entsetzte Ausdruck auf Pauls Gesicht mehr und mehr verstärkt. Doch Frau Brandelmess nahm dies nicht einmal ansatzweise wahr. Stattdessen tätschelte sie seine Hand, um sich dann zufrieden mit sich selbst zurückzulehnen. „Na, was meinen Sie, entspricht das Ihren Vorstellungen?“
Ich warf Paul aus meinen Augenwinkeln einen Blick zu und bevor er antworten konnte, meinte ich enthusiastisch: „Ja, genauso hat es uns Kaplan Wittgen auch beschrieben. Und Herr Schwarz hat von der Abgeschiedenheit ebenfalls geschwärmt.“
Die Metzgersfrau runzelte ihre Stirn. „Herr Schwarz?“ Sie wandte sich ihrem Mann zu. „Walter, sagt dir der Name etwas?“
Herr Brandelmess schüttelte seinen Kopf. „Nein.“
Zwei Augenpaare richteten sich fragend auf mich.
„Bernhard Schwarz. Er ist eines unserer Gemeindemitglieder. So, wie er mir die Pension geschildert hat, bin ich fest davon ausgegangen, dass er schon öfter mit dabei war.“ Ich machte eine Pause und gab mir den Anschein nachzudenken. „Ach, ich habe ja ein Foto von ihm dabei, das wollte ich nachher beim Dekanat abgeben. …Warten Sie, ich suche es schnell heraus.“
Ich langte in meine Tasche, tat so, als würde ich darin herumkramen und zog schließlich Bernhards Foto heraus. Herr und Frau Brandelmess sahen es sich an. „Nein, diesen jungen Mann kennen wir nicht. Die Betreuer, die der Kaplan dabei hatte, waren bis auf zwei junge Männer schon älter.“
Wieder betrachtete ich Paul aus meinen Augenwinkeln. Seine Erleichterung war ihm deutlich anzumerken.
„Hm, seltsam“, meinte ich. „Aber das ist auch nicht so wichtig. …Ich weiß, es ist schon spät, aber glauben Sie, wir könnten uns mit Ihnen gemeinsam die Pension jetzt nochmals von innen ansehen? …Letztendlich ist es ja lediglich eine Formalie, nachdem Kaplan Wittgen bereits so positiv über Ihr Anwesen
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