Wo die toten Kinder leben (German Edition)
befinden“, sagte der Pfarrer. Er verschwand in einem Nebenraum. Wir hörten, wie eine Schublade geöffnet wurde und das Rascheln von Papieren. Nach einigen Minuten kam er zurück und hielt uns einen Zettel entgegen. Einige Zahlen waren darauf geschrieben.
„Da habe ich ihn immer erreicht, wenn er weg war.“
Paul nahm die Notiz. Wir standen auf und gingen, ohne uns zu verabschieden.
27
W ir tippten die Telefonnummer, die uns der Pfarrer gegeben hatte, in Pauls Smartphone ein. Ein paar Sekunden später spuckte uns die App alle Angaben aus, die wir benötigten: Der Anschluss gehörte zu einer Pension Schwalbe und deren Adresse war ebenfalls gelistet.
Unsere Fahrt dauerte rund drei Stunden, unterbrochen von einem Mittagessen in einer Rastanlage. Jetzt standen wir hier, nahe der Grenze zu Tschechien und blickten zu dem Ort, zu dem sich der Kaplan immer dann begeben hatte, wenn er von seinen sonderbaren Freunden abgeholt worden war.
Das Gebäude befand sich am Ende einer Stichstraße. Ringsum erstreckten sich abgeerntete Felder. Dunkler Humus war aufgerissen, soweit das Auge reichte. Zwischendrin stand ein einsamer Baum, knorrig und nahezu blattlos, bereit für seinen Winterschlaf.
Die Pension machte einen heruntergekommenen Eindruck. Farbe blätterte von der Fassade. Die Dachziegel waren alt und vermoost. Das Haus stammte vielleicht aus den fünfziger oder sechziger Jahren, hatte schon wesentlich bessere Zeiten gesehen und wartete ganz eindeutig auf die Abrissbirne.
Die Gegend an sich mochte im Sommer für Wanderer und Familien einladend sein, die ihren Urlaub auf dem Lande verbringen wollten. Aber hier, hier hatten sich Personen getroffen, die in ihrer Freizeit ganz andere Dinge taten, als die Natur zu genießen.
Wir gingen zum Eingang und versuchten die Tür. Sie war abgeschlossen. Wir klingelten, doch niemand reagierte. Das Gebäude wirkte verlassen.
Ein Traktor bog von einem der Felder auf die einsame Straße ab und bewegte sich auf uns zu. Kurzerhand stellte ich mich an den Rand der Fahrbahn und wartete, bis er vor uns Halt machte. Der Fahrer trug eine hellbraune Drillichhose und einen abgewetzten Plastikanorak. Auf seinem Kopf thronte eine grüne Schirmmütze. Ich machte ihm ein Zeichen, dass ich ihn nicht verstehen konnte, indem ich auf meine Ohren deutete.
Er würgte seinen Motor ab und beugte sich zu mir heraus. „Na, schöne Frau, was kann ich für Sie tun?“
„Diese Pension da drüben…“, ich deutete auf das Haus, „wir haben geklingelt, aber da macht keiner auf.“
Der Bauer schüttelte den Kopf. „Da ist niemand. Die Herberge gehört Familie Brandelmess unten im Dorf. Die haben da noch ein richtiges Hotel. Das hier, das ist eigentlich das ganze Jahr über geschlossen.“
„Eigentlich?“
„Na ja, ab und zu vermieten sie es schon. Aber in diesem Zustand, wer will da hin? Die Besitzer versuchen seit Jahren, es zu verkaufen. Nur haben sie bislang keinen gefunden, der dumm genug wäre, sich solch ein heruntergekommenes Haus ans Bein zu hängen.“
„Familie Brandelmess“, hakte ich nach, „wo finde ich die?“
Bereitwillig gab er mir eine Wegbeschreibung. „Es ist ein großes Hotel mit Gaststätte und Metzgerei. Sie können es gar nicht verfehlen.“
Ich bedankte mich, der Bauer griff sich zum Gruß an den Schirm seiner Kappe und warf den Traktor an, der sich laut schnaubend mit blaugrauen Abgasstreifen aus unserem Blickfeld entfernte und dabei dicke Erdbrocken von seinen Reifen auf die Fahrbahn warf.
„Der ideale Platz“, sagte Paul, als wir wieder im Auto saßen.
„Ja“, antwortete ich. „Niemand sieht, wer hier absteigt. Und niemand hört die Schreie.“
Wir steuerten die nächste Ortschaft an. Der Tag begann, sich davonzustehlen. Ein grauweißer Himmel senkte sich herab, verlor seine Konturen und tauchte alles in ein unwirkliches Zwielicht.
Das Hotel war in der Tat nicht zu übersehen. Frisch renoviert und auf Landhaus getrimmt, stand es beim alten Dorfbrunnen im Zentrum der kleinen Ortschaft. Wie es der Bauer beschrieben hatte, befand sich direkt daneben die hauseigene Metzgerei. Im Geschäft brannte Licht. Ich parkte davor und hielt Paul zurück, der sich anschickte, auszusteigen.
„Was ist?“, fragte er.
„Uns ist beiden klar, dass die Selbstmorde irgendwie mit dem Pädophilenring zusammenhängen müssen, sonst hätten wir die Speicherkarte mit den Bildern nicht bei Bernhard gefunden.“
Pauls Miene wirkte verschlossen. „Das weiß ich“, meinte er
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