Wo die Toten ruhen - Psychothriller
essen.
Esmé plauderte eine Weile über Dinge, die sie interessierten und von denen sie dachte, sie könnten auch Ray interessieren, doch er nahm sein Mahl fast schweigend zu sich.
»Was ist los? Du isst ja kaum was.«
Seine Gabel schlug gegen den Tisch, als er sie weglegte. »Was
für ein Mann war er? Mein Vater?« Er sah so gesund und jung aus und so … unglücklich.
Sie räumte die Gabel weg und konzentrierte sich auf die Antwort. War es nicht seltsam, dass ein erwachsener Mann wie Ray, Ende dreißig, verheiratet, immer noch um den Verlust eines Vaters trauerte, den er im Alter von zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte? »Du hast seit Jahren nicht nach ihm gefragt. Was ist los mit dir, Ray?«
»Ich denke über mein Leben nach. Ich will es wissen. Du hast mir nie viel erzählt. Alles, was ich wirklich weiß, ist, dass er wegging, bevor ich geboren wurde, und dass er starb, als ich zwei war. Du warst nicht lange verheiratet.«
Sie seufzte. »Wie ich dir schon gesagt habe, Henry hat ausgesehen wie du, aber er war weder so groß noch so gut aussehend. Sein Haar war wie deins. Er hat in einer Bank gearbeitet.«
»Warum hast du überhaupt keine Fotos? Wenigstens ein Hochzeitsfoto?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich ziemlich fertig war, als er mich verließ, Ray. Ich hatte sie in einer Schachtel aufbewahrt, und diese Schachtel ist irgendwann verloren gegangen.«
»Und er hatte keine Familie?«
»Eine Tante in South Dakota oder irgendwo. Ray, ich habe dir das alles schon erzählt. Er hatte sein Zuhause sehr jung verlassen, um nach Kalifornien zu kommen. Er ist nicht gut mit seinen Eltern zurechtgekommen. Ich weiß nicht mehr, was für Probleme sie hatten. Er war … es war schwer, mit ihm auszukommen.«
»Warum habt ihr euch getrennt? Wegen mir?«
Esmé seufzte. »Was meinst du damit?«
»Hatte er … Angst? Oder wollte er vielleicht keine Kinder?«
»Vielleicht hatte er Angst, aber da hat er dich doch noch
nicht gekannt. Es war nichts Persönliches, Schatz. Es tut mir leid, dass du ohne Vater aufwachsen musstest, aber ich habe versucht, es wiedergutzumachen.« Ihr Atem ging leicht schnaufend. Sie stand auf, zog die Schublade einer Anrichte auf, nahm ihren Inhalationsapparat heraus und atmete tief ein. Seine Tiraden störten sie, all diese Geschichten, die sie schon so oft durchgegangen waren. Wenn es in seinem Leben nicht so glatt lief, kam Ray immer auf die Vergangenheit zurück. Das Mittel gelangte in ihre Lunge und entspannte die Bronchien, machte sie aber auch ein wenig benommen.
»Weißt du«, sagte sie leise, »ich spreche nicht gern über diese Jahre. Es war hart, dich aufzuziehen und so viel Verantwortung tragen zu müssen ohne jede Unterstützung. Ich liebe mein Leben jetzt. Ich freue mich, wenn heute etwas Schönes geschieht. Wie ein Besuch von meinem Sohn.«
»Warum sind wir so oft umgezogen, als ich klein war?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir hatten gute Gründe. Können wir über etwas anderes reden?«
»Manchmal sind wir mitten in der Nacht aufgebrochen. Sind wir zur Räumung gezwungen worden?«
»Vielleicht ein oder zwei Mal. Normalerweise nicht.«
»Bis wir in dieses Haus hier gezogen sind, hatte ich einen Freund nie länger als sechs Monate.«
»Wir hatten einander.«
»Als Kind kommt es einem normal vor, wie man lebt. Wenn die Mutter oder der Vater mit dir schimpfen, nun, dann ist das eben so. Wenn man arm ist, bekommt man es nicht mit. Aber im Rückblick wundere ich mich doch. Deine Jobs haben kaum für die Miete gereicht. Es war nicht so, als hätte deine Karriere uns gezwungen, ständig umzuziehen. Ich war auf acht verschiedenen Schulen, bevor ich in die Highschool kam. Das ist doch nicht normal.«
»In Kalifornien hat niemand das, was du eine normale Kindheit nennst«, feuerte Esmé zurück. »Hierher kommt man, wenn man ein neues Leben anfangen will. Alle kamen von woanders, Mexiko, Oklahoma, Texas. Hier kann man der sein, der man sein will, was dir übrigens sehr zugute gekommen ist. Ich danke Gott für die großartigen staatlichen Universitäten. Wie die Marines sagen: Schluck’s runter, Soldat. Mach weiter. Egal, wir haben uns niedergelassen, sind hiergeblieben seit der Zeit, als du zwölf warst.«
»Weißt du, ich habe immer ein Spiel mit mir gespielt. Sei an jedem neuen Ort ein neuer Typ: Sei freundlich, sei reserviert, sei klug, stell dich dumm.«
»Nun, das klingt nach einer Strategie. Du musstest irgendwie reinpassen.« Sie war mit ihrer Geduld am Ende.
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